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Seelentod

Seelentod

Titel: Seelentod
Autoren: Ann Cleeves
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    Kapitel Eins
    Vera schwamm langsam durchs Becken. Ein älterer Herr, der sich die Badekappe wie ein straff gespanntes Kondom über den Kopf gezogen hatte, kraulte an ihr vorbei. Er schwamm nicht besonders gut und war doch schneller als sie. Im Kosmos des Schwimmens war sie das Faultier. Sie fand es anstrengend genug, ihren massigen Körper überhaupt durchs Wasser zu bewegen.
    Das Gefühl von Wasser im Gesicht war ihr zuwider – ein Spritzer, und sie glaubte, sie müsse ertrinken –, deshalb schwamm sie die Bahn langsam in Brustlage und hielt das Kinn ein ganzes Stück über der Wasseroberfläche. Wobei sie vermutlich aussah wie eine riesige Schildkröte.
    Es gelang ihr, den Kopf noch ein Stückchen höher zu recken, sodass sie auf die Wanduhr sehen konnte. Gleich Mittag. Bald würden die rüstigen Senioren für den Aqua-Aerobic-Kurs anrücken. Die Frauen mit ihren lackierten Zehennägeln, den geblümten Badeanzügen und jener selbstgefälligen Gewissheit, zur letzten Generation zu gehören, die noch ohne größere Einbußen früh in Rente gehen konnte. Dann spielte immer laute Musik – die von der hochempfindlichen Lautsprecheranlage und der unerträglichen Akustik der Schwimmhalle allerdings so verzerrt wurde, dass man sie kaum noch als Musik bezeichnen konnte –, und eine junge Frau im Gymnastikanzug schrie herum. Schon den Gedanken daran konnte Vera nicht ertragen. Sie hatte ihre üblichen zehn Bahnen geschwommen. Na gut, acht. Sie konnte sich einfach nichts vormachen, und sollte ihr Leben davon abhängen. Und jetzt, so wie ihr der Atem in den Lungen pfiff, hatte sie tatsächlich das Gefühl, dass ihr Leben davon abhing. Ach, scheiß drauf! Noch fünf Minuten ins Dampfbad, und dann einen extrastarken Latte macchiato und zurück an die Arbeit.
    Das mit dem Schwimmen war die Idee ihrer Ärztin gewesen. Vera war zur Routineuntersuchung gegangen und hatte sich gegen die üblichen Vorhaltungen wegen ihres Gewichts gewappnet. Was ihren Alkoholkonsum betraf, da log sie ja immer, aber ihr Gewicht war unübersehbar, das konnte sie nicht verheimlichen. Die Ärztin war noch jung, sie sah aus wie ein kleines Mädchen, das den respekteinflößenden Kittel einer Erwachsenen nur als Verkleidung trug.
    «Ihnen ist schon klar, dass Sie sich umbringen?» Sie beugte sich über den Tisch nach vorn, und Vera konnte sehen, dass sie kein Make-up auf der perfekten Haut trug. Sie roch dezent nach Erwachsenenparfum.
    «Ich habe keine Angst vor dem Tod», sagte Vera. Sie liebte dramatische Äußerungen, diese aber entsprach vermutlich sogar der Wahrheit.
    «Vielleicht sterben Sie ja auch nicht.» Die Ärztin hatte eine klare Stimme, die jedoch ein bisschen zu hoch war, um angenehm zu klingen. «Jedenfalls nicht gleich.» Und dann zählte sie die ganzen scheußlichen Symptome auf, zu denen Veras Völlerei führen konnte. Eine altkluge Musterschülerin, die ihr die Leviten las. «Es wird Zeit, Miss Stanhope, dass Sie anfangen, Ihren Lebensstil ernsthaft zu überdenken.»
    Inspector, wollte Vera sagen. Inspector Stanhope. Aber sie spürte, dass ausgerechnet dieses als Ärztin verkleidete Kind sich von ihrer Stellung nicht beeindrucken lassen würde.
    Also war Vera Mitglied im Fitness-Club eines großen Hotels vor den Toren der Stadt geworden, und an den meisten Tagen zwackte sie sich eine Stunde von der Arbeit ab und schwamm zehn Bahnen. Oder acht. Nie, dachte sie selbstgerecht, weniger als acht. Sie versuchte, zu einer Zeit zu kommen, wenn das Becken leer war. Frühmorgens und abends kam nicht in Frage. Dann war der Umkleideraum überfüllt mit all den mageren, sonnengebräunten jungen Frauen, die sich an ihre iPods stöpselten und an sämtlichen Geräten im Fitnessraum trainierten. Wie sollte Vera ihre mit Ekzemen übersäten Beine, ihren schwabbeligen Bauch und ihre Cellulitis vor diesen zwitschernden, kichernden Göttinnen entblößen? Hin und wieder warf sie einen schnellen Blick in den Fitnessraum, der mit seinen riesigen Maschinen und den keuchenden, sich windenden Leibern aussah wie eine moderne Folterkammer. Die Männer glänzten vor Schweiß, und sie ertappte sich dabei, dass ihr Anblick sie faszinierte – der Anblick der glatten Muskeln, der kräftigen Schultern und der Füße in Turnschuhen, die auf dem Stepper auf und ab stampften.
    Normalerweise kam sie am späten Vormittag in den Fitness-Club, sagte auf der Arbeit, sie hätte ein Meeting, und hetzte hierher. Sie hatte sich einen Club
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