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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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und er sieht auf einmal so menschlich aus, dass Albert es bereut, ihn all die Jahre für einen Vollidioten gehalten zu haben.
    »Schade, dass du deine Party verpasst hast. Aber wir haben auf dich angestoßen.«
    »Ihr habt trotzdem gefeiert?«
    »Na ja, die Jungs hatten sich doch so drauf gefreut.« Er zögert. Hätte er es vielleicht lieber nicht erwähnen sollen? »Du weißt ja, wie sie auf Tee und Kuchen stehen.«
    »Ich freue mich, dass ihr eine schöne Feier hattet. Bitte dank doch den Kollegen von mir. Für das hier und alles. Für eine Laufbahn, auf die ich stolz war.«
    »Es war mir eine Ehre, Albert.« Er schüttelt ihm überraschend herzlich die Hand. »Und komm uns doch ab und zu besuchen.«
    Albert lauscht seinen Schritten nach, als er davongeht – man hört ihnen deutlich an, dass es die Schritte eines Besuchers von draußen sind, eines vielbeschäftigten Mannes, der imponieren will.
    Und nicht nur ein Besucher, denkt Albert, leise vor sich hin schmunzelnd, sondern mein Besucher.

65
    Sie hat es sich ganz anders vorgestellt. Jahrelang ist die Aussicht auf eine Reise nach Athen das Licht am Ende des Tunnels gewesen, die Verheißung eines Lebens vor dem Tode. Doch nun ist sie mit roten, verquollenen Augen in ihrem Hotel eingetroffen, nachdem sie fast den ganzen Flug und auf dem Transfer in die Stadt geflennt hat.
    Bob wird den Abschiedsbrief inzwischen gefunden haben, den sie in der Küche an die Donutpackung gelehnt hat. Es ist kein langer Brief, aber an World of Warcraft wird für den Rest des Tages nicht mehr zu denken gewesen sein. Mittlerweile ist er wahrscheinlich in der bitteren Realität angekommen; es ist seine erste Nacht ohne sie, die erste von vielen.
    Als Carol sich vorstellt, dass er womöglich weint, fängt auch sie wieder an, nicht wegen ihrer Flucht heute, sondern wegen der vergangenen achtzehn Jahre, in denen sie ein so dichtes Gespinst aus Heuchelei um sie beide gesponnen hat, dass sie nicht weiß, wie sie sich jemals wieder daraus befreien sollen.
    Es ist ihr nie in den Sinn gekommen, dass die Winter in Griechenland auch kalt sein könnten. Kühler, das schon, aber doch nicht kalt. Sie hat immer gedacht, dass man im Winter endlich keine Angst mehr haben muss, an einem Hitzschlag zu sterben, und sich unbekümmert in Shorts auf die Straße wagen kann, ohne geröstet zu werden. Auf sämtlichen Griechenlandfotos, die sie je gesehen hat, wirkt die Landschaft viel zu ausgetrocknet, als dass es dort nasskalte Tage geben könnte. Und doch ist das Wetter in Athen auch nicht besser als in London, nur dass sie in London einfach heimfahren und sich in ihrem Flauschpyjama mit einem Buch ins Bett kuscheln könnte. Das könnte sie in Athen natürlich auch, wenn sie den Flauschpyjama nicht zu Hause gelassen hätte, aber das Hotel ist sowieso nicht heimelig genug dafür. Düster und kalt, scheint es besser für eine asketische Einkehr geeignet, wo man sich für seine Sünden bei Wasser und Brot selbst kasteit. Selbst das Bett ist eine Strafe, wie geschaffen dafür, nachts wach zu liegen und darüber nachzugrübeln, was im Leben alles schiefgelaufen ist.
    Schön wär’s, wenn Athen sie für all das entschädigen würde, aber das kann sie wirklich nicht behaupten. Carol ist nicht in der Stimmung für Sightseeing, und nach dem zu urteilen, was sie bis jetzt gesehen hat, ist Athen genau wie Croydon, bloß mit mehr altem Gemäuer, die ideale Kulisse für Tage voller Trauer und Tränen.
    Vor lauter Trostbedürftigkeit ruft sie schließlich Helen an.
    »Carol, wo bist du?«
    »In Athen.«
    »Verdammte Scheiße, Carol, wir drehen hier alle durch vor Sorge.«
    »Es geht mir gut«, entgegnet sie, schon wieder den Tränen nah. »Wie steht’s mit Bob und Sophie?«
    »Nicht so toll, aber sie werden’s überleben. Um dich mache ich mir Sorgen.«
    »Dazu besteht wirklich kein Grund. Ich brauche einfach nur … ach Gott, ich weiß auch nicht …«
    »Warum hast du mir nicht gesagt, dass du gehst?«
    »Du hättest doch nur versucht, mich aufzuhalten.«
    »Ich weiß, ich bin eine schlechte Freundin.«
    »So hab ich das nicht gemeint.«
    »Aber es stimmt. Hör zu, letzte Woche hab ich dir was verschwiegen, und das bedrückt mich schon die ganze Zeit.« Carol ist so geschockt von Helens Geständnis, dass ihre Tränen versiegen. »Es geht um deinen Traum.«
    »Ach nein, Helen. Ist das alles?«
    »Ich weiß nämlich, was er bedeutet. Ich wusste es gleich, als du ihn mir erzählt hast. Und ich hab dich angelogen. Du
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