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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Autoren: Arnold Retzer
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Einstimmung
    Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin
    Was ist eigentlich los mit uns?
    Man kommt kaum aus dem Morgentief. Der Job macht keinen Spaß mehr, vieles andere auch nicht. Und den Kollegen und Freunden scheint es auch nicht besser zu gehen. Niedergeschlagenheit, Depressionen und Burn-out greifen um sich. Bei vielen ist die altbekannte Midlife-Crisis zur allgemeinen Lebenskrise geworden.
    Das psychische Allgemeinbefinden ist schlecht und die Stimmung vieler Menschen auch.
    Acht Millionen erwachsene Deutsche leiden an behandlungsbedürftigen Depressionen. [1]   Depression ist die bei weitem häufigste psychische Störung. Die Steigerungsraten sind enorm: Die Zahl der Ausfalltage stieg innerhalb von vier Jahren bei depressiven Störungen um 42%, bei Angststörungen um 27%. [2]   Weltweit sind depressive Zustände die vierthäufigste Ursache von Krankheiten und Behinderungen. Und die Aussichten sind nicht rosig: Im Jahr 2020 sollen sie laut der Weltgesundheitsbehörde WHO den zweiten Platz einnehmen. Die direkten und indirekten Kosten, die psychische Erkrankungen verursachen, sollen weltweit von 2,5 Billionen US-Dollar (Stand 2010) auf 6,0 Billionen im Jahr 2030 ansteigen. [3]  
    Aber auch sonst ist die Stimmung schlecht. Die Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise hält an, bzw. eine Krise löst die andere ab. Kriege werden geführt und nicht beendet, auch wenn sie nicht zu gewinnen sind. Ein Skandal, der die Stimmung trübt und das moralische Empfinden beleidigt, folgt dem anderen …
    Aber das ist nur die eine Seite unserer Stimmungswirklichkeit.
    Auf der anderen Seite wird überall für positive Stimmung geworben: Die Bedingungen für Glück und Wohlbefinden, heißt es, sind in unseren westlichen Gesellschaften noch nie so gut gewesen wie heute, und sie sollen sich in Zukunft noch weiter verbessern. Noch nie hatten die Menschen in unserem Land so gute und zahlreiche Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung, waren die Aussichten auf ein immer länger währendes Leben ohne Angst, materielle Sorgen und gesundheitliche Einschränkungen günstiger. Man muss die Chancen nur nutzen. Man muss nur wollen. Yes, we can!!
    »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin«, fragen sich daher viele heimlich verunsichert mit Heinrich Heine. Nach Antworten muss man nicht lange suchen, denn sie werden uns überall und fortwährend gegeben: Unsere privaten Niederlagen und schlechten Stimmungen werden seit mindestens einem Jahrhundert unserer angeblich fehlerhaft funktionierenden Psyche zugeschrieben – was immer das sein soll.
    In den letzten Jahren wird aber auch immer öfter unsere biologische Konstitution für stimmungsmäßiges Fehlverhalten zur Verantwortung gezogen.
    Unsere Biologie ist der Gegner, und unsere schlechte Stimmung soll in unserem Gehirnstoffwechsel bekämpft werden. Der optimistische Kampf gegen den Pessimismus ist auf breiter Front eröffnet und tobt schon seit einiger Zeit. Er besteht vor allem aus chemischer Kriegsführung: Pro Tag werden in Deutschland allein für Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen in der ambulanten Versorgung über zwei Millionen Tagesdosen Antidepressiva verordnet, obwohl die positive Wirkung von Antidepressiva alles andere als gesichert ist. Gleichzeitig setzen noch mehr Menschen auch weiterhin auf bewährte chemische Kampfmittel im Stimmungskrieg wie Alkohol, Drogen und Doping, um wieder in die richtige, sprich: positive Stimmung zu kommen.
    Immer mehr Menschen bedienen sich heutzutage pharmakologischer Hilfen, um den eigenen Ansprüchen oder wenigstens den Ansprüchen anderer gerecht zu werden. Dank sogenannter Neuroenhancer (Hirndoping) erhoffen sich mindestens zwei Millionen Deutsche, konzentrations- und leistungsfähiger zu werden. Allein in Deutschland nehmen 800000 Arbeitnehmer regelmäßig »Kokain fürs Büro« oder »Viagra fürs Gehirn«. Die bekanntesten Mittel sind: Methylphenidat (z.B. Ritalin®), Modafinil (z.B. Vigil®), Piracetam, Fluoxetin und Metoprolol (z.B. Beloc®).
    Unsere Biologie und unsere Gehirne sind aber nicht nur die Gegner, wenn es um den Kampf gegen die schlechte Stimmung geht. Durch Einwirkung auf unseren Gehirnstoffwechsel soll die schlechte Stimmung auch umweltverträglich entsorgt werden, das heißt, ohne dass sie »Schaden« anrichtet, nämlich zum Beispiel auf notwendige gesellschaftliche Veränderungen oder notwendige Einstellungsänderungen hinweist: Schlechte Stimmungen werden zu
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