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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Autoren: Arnold Retzer
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Krankheiten erklärt und damit zum individuellen Problem des Einzelnen. Unser Unbehagen wird im synaptischen Spalt zwischen Neuronen verortet und soll auch genau dort behandelt werden.
    Doch es bleiben Fragen:
    Worauf fußen empirisch und wissenschaftlich diese biologischen und individualisierenden Entsorgungsstrategien? Genaues weiß man nicht!
    Bedeutet die enorme Zunahme depressiver Zustände, dass sich die Biologie unzähliger Menschen zum Schlechten hin verändert hat? Wohl kaum! So schnell ändern sich die biologischen Eigenschaften des Menschen, die menschliche Hardware nicht.
    Etwas hat sich allerdings geändert, und zwar sehr nachhaltig: Die individuellen und sozialen, die gesellschaftlichen und politischen Zustände – und die Vorstellungen der Menschen von sich selbst und der Welt (die menschliche Software).
    Thema dieses Buches wird es sein zu zeigen, wie die individuell erlebten und erlittenen Krisen von gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgebracht, geformt und aufrechterhalten werden und dass unsere soziale und kulturelle Umwelt uns und unsere Vorstellungen von uns selbst meist stärker beeinflussen, als wir es uns selbst eingestehen wollen.
    Unsere privaten Krisen und die Widersprüche werden so verständlicher. Lösungen lassen sich nicht länger ausschließlich in Psycho- und Biotechnologie finden, sondern auch und besonders in unserer sozialen und kulturellen Umwelt bzw. darin, wie wir uns ihr gegenüber verhalten.
    Die Glaubensbekenntnisse unserer Kultur und die damit verbundenen sozialen und gesellschaftlichen Verfahrensweisen prägen nicht nur unser persönliches Verhalten, sondern auch unsere intimsten Erwartungen, Träume, Hoffnungen, Befürchtungen und natürlich unsere Stimmungen. Wir sind jedoch nie ausschließlich Opfer unserer Kultur.
    Dies zu erkennen und zu berücksichtigen ist dringend geboten, wenn wir unsere privaten und gesellschaftlichen Krisen überwinden wollen.
    Gerade in der Krise ist es notwendig, nicht auf bewährte Vorstellungen, auf die bekannten und überall gegebenen Antworten zurückzugreifen. Neue Orientierung muss gesucht und neue Wege müssen gegangen werden.
    Wenn es um die Beschreibung von Krisen und um deren Erklärung gehen soll, können, ja dürfen die bisher verwendeten Verfahren nicht das letzte Wort haben, wenn sie denn überhaupt noch zu Wort kommen sollen. Sie haben schließlich in die Krise geführt.
    Die Krise macht dagegen deutlich, dass wir unser bisheriges Denken, unsere Denkstile und unsere Vorstellungen und Werte überdenken sollten. Und wir müssen damit rechnen, dass wir manches davon aufgeben müssen, weil es einfach nicht mehr funktioniert. Wir sollten darauf gefasst sein, von toten Gäulen abzusteigen. Krisen eröffnen die Chance einer tiefgreifenden Korrektur alter Denk- und Glaubensgewohnheiten.
    Ich möchte zeigen, wie sich Zeitgeist, Kultur, Weltverständnis, Lebensentwurf und unsere schlechte Stimmung, unsere Ängste und Depressionen wechselseitig bedingen und dass das bisher für tauglich Gehaltene heute offensichtlich einem neuen Denken Platz machen muss.
    Krisen bieten die Chance, bisher gültige und hochgehaltene Werte zu hinterfragen und zu neuen Bewertungen zu gelangen. Diese Chance soll hier genutzt werden. Es wird eine Abwertung bisher hochgejubelter Werte vorgenommen werden und eine Aufwertung bisher abgewerteter Phänomene:
    Abgewertet, weil abgewirtschaftet, werden Heldentum, blindes Festhalten an Hoffnungen, das Ideal der Fehlerlosigkeit, Werte wie Erfolg, Spaß, Autonomie, Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit, Optimismus, Gewissheit, Wissen und Glaubensfestigkeit. Diese Wertvorstellungen haben nicht nur in die Krise geführt, sondern auch zu den weithin beklagten, erlittenen und bekämpften miesen Stimmungen.
    Aufgewertet, weil dringend benötigt, werden dagegen Zustände und Phänomene wie Angst, Trauer, Hoffnungslosigkeit, Pessimismus, Abhängigkeit, Ungewissheit und Ungläubigkeit, Fehlerhaftigkeit, Scheitern, Katastrophen und Tod. Ihre Aufwertung kann nicht nur aus der Krise führen, sondern auch zu besserer Stimmung beitragen.

    Dieses Buch kann auf vielfältige Weise gelesen werden.
    Indem es individuell erlebte und erlittene Stimmungen beschreibt, erklärt und unterschiedliche Umgangsweisen mit diesem Erleben darstellt, kann es als psychologisches Buch gelesen werden.
    Indem es die gesellschaftlichen und kulturellen Glaubenssysteme und Vorstellungen einer »depressiven Gesellschaft« analysiert, kann es als
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