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Xenozid

Xenozid

Titel: Xenozid
Autoren: Card Orson Scott
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Kapitel 1
Ein Abschied
    ›Heute fragte mich einer der Brüder: Ist es eine schreckliche Fessel, dich nicht von der Stelle bewegen zu können, an der du stehst?‹
    ›Du hast geantwortet…‹
    ›Ich habe ihm gesagt, ich sei jetzt freier als er. Die Unfähigkeit, mich zu bewegen, befreit mich von der Verpflichtung zu handeln.‹
    ›Du, der du Sprachen sprichst, kannst so gut in ihnen lügen.‹
     
    Han Fei-tzu saß in der Lotusstellung auf dem nackten Holzboden neben dem Krankenbett seiner Frau. Bis vor einem Augenblick hatte er vielleicht geschlafen; er war sich nicht sicher. Doch nun wurde er sich einer Veränderung bewußt, die so fein war, als wenn ein Schmetterling einen Lufthauch erzeugt.
    Jiang-qing ihrerseits mußte auch eine Veränderung in ihm gespürt haben, denn zuvor hatte sie nicht gesprochen, und nun sprach sie. Ihre Stimme war sehr leise. Doch Han Fei-tzu konnte sie deutlich verstehen, denn im Haus war alles still. Er hatte seine Freunde und Diener gebeten, während der Abenddämmerung von Jiang-qings Leben Ruhe zu bewahren. In der langen Nacht, die bevorstand, in der keine geflüsterten Worte mehr von ihren Lippen kommen würden, war noch Zeit genug für achtlosen Lärm.
    »Noch immer nicht tot«, sagte sie. Sie hatte ihn, als sie während der letzten Tage erwacht war, jedesmal mit diesen Worten begrüßt. Zuerst waren ihm die Worte wunderlich oder ironisch erschienen, doch nun wußte er, daß sie sie mit Enttäuschung sprach. Sie sehnte sich jetzt nach dem Tod, nicht etwa, weil sie das Leben nicht geliebt hätte, sondern weil der Tod nun unvermeidlich war und das, was nicht vermieden werden konnte, akzeptiert werden mußte. Das war der Weg. Jiang-qing hatte sich während ihres Lebens nie auch nur einen Schritt vom Weg entfernt.
    »Dann sind die Götter mir freundlich gesonnen«, sagte Han Fei-tzu.
    »Dir«, sagte sie schwer atmend. »Worüber sinnen wir nach?«
    Das war ihre Art, ihn zu bitten, seine ganz eigenen Gedanken mit ihr zu teilen. Wenn sich andere nach seinen Gedanken erkundigten, kam er sich bespitzelt vor. Doch Jiang-qing fragte stets nur so, als habe sie vielleicht denselben Gedanken gehabt; schließlich waren sie zu einer einzigen Seele zusammengewachsen.
    »Wir sinnen über die Natur des Begehrens nach«, sagte Han Fei-tzu.
    »Wessen Begehren?« fragte sie. »Und worauf?«
    Mein Begehren, daß deine Knochen heilen und stark werden, so daß sie nicht beim geringsten Druck brechen. Daß du wieder stehen oder sogar einen Arm heben kannst, ohne daß deine eigenen Muskeln Knochenstückchen wegreißen oder den Knochen unter der Anspannung brechen lassen. Daß ich nicht zusehen muß, wie du verfällst, bis du nun nur noch achtzehn Kilo wiegst. Ich habe nie gewußt, wie völlig glücklich wir waren, bis ich erfuhr, daß wir nicht zusammenbleiben können.
    »Mein Begehren«, antwortete er. »Auf dich.«
    »›Man begehrt nur, was man nicht hat.‹ Wer hat das gesagt?«
    »Du«, sagte Han Fei-tzu. »Einige sagen: ›Was man nicht haben kann.‹ Andere sagen: ›Was man nicht haben sollte.‹ Ich sage: ›Du kannst nur wahrhaft begehren, worauf du auf ewig hungern wirst.‹«
    »Du hast mich auf ewig.«
    »Ich werde dich heute abend verlieren. Oder morgen. Oder nächste Woche.«
    »Betrachten wir die Natur des Begehrens«, sagte Jiang-qing. Wie zuvor benutzte sie die Philosophie, um ihn aus seiner Melancholie zu ziehen.
    Er widerstand ihr, aber nur spielerisch. »Du bist eine harte Herrscherin«, sagte Han Fei-tzu. »Wie deine Vorfahrin-des-Herzens duldest du die Schwächen anderer Leute nicht.« Jiang-qing hieß nach einer revolutionären Führerin der Vergangenheit, die versucht hatte, das Volk auf einen neuen Weg zu führen, aber von Feiglingen mit schwacher Gesinnung verraten worden war. Es war nicht richtig, dachte Han Fei-tzu, daß seine Frau vor ihm starb: Ihre Vorfahrin-des-Herzens hatte ihren Gatten überlebt. Außerdem sollten Ehefrauen länger leben als Ehemänner. Frauen waren in sich vollständiger. Sie waren auch besser in der Kunst, in ihren Kindern zu leben. Sie waren nie so allein wie ein einzelner Mann.
    Jiang-qing weigerte sich, ihn wieder seinen Grübeleien zu überlassen. »Wonach sehnt sich ein Mann, wenn seine Frau tot ist?«
    Rebellisch gab ihr Han Fei-tzu die denkbar falscheste Antwort auf ihre Frage. »Neben ihr zu liegen«, sagte er.
    »Die Begierde des Körpers«, sagte Jiang-qing.
    Da sie entschlossen war, dieses Gespräch zu führen, nahm Han Fei-tzu den
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