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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Autoren: Arnold Retzer
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schließlich auch zusammenbricht. Einige Läufer können keinen Löffel und keine Tasse mehr halten, so sehr zittern sie vor Erschöpfung. Andere sind nicht mehr in der Lage, ihren Namen zu nennen. Sie wissen nicht mehr, wer sie sind.
    Was bringt die 550 Läufer dazu, sich das anzutun? Warum tun es so viele ihnen gleich: laufen die Marathonstrecke am Südpol oder riesige Strecken durch Geröll- und Sandwüsten, schwimmen kilometerlang in Eiswasser, stürzen sich von hohen Klippen, klettern ohne Sicherung auf Felsen oder an Felsüberhängen herum, besteigen innerhalb von zwei Monaten Mount Everest und K2 ohne zusätzlichen Sauerstoff? Sie tun etwas, wofür es inzwischen eine eigene Sprache gibt: Base-Jumping, Free-Solo-Climbing, Apnoe-Tauchen, Canyoning, River Rafting, Downhill Biking, Freeriding, Extremsurfing und dergleichen mehr. [11]  

Extremsporthelden
    Was bringt Menschen dazu, sich heroisch auf tödliche Gefahren des Risiko- oder Extremsports einzulassen?
    Der Extremsportler erwartet wohl etwas, was ihm sein unheroisches Normal-Dasein nicht zu bieten scheint.
    Und was wäre das unheroische Normal-Dasein?
    Das normale Alltagsleben wird als mehr oder weniger durchorganisiert erlebt. Gewohnte Verhaltens- und Verfahrensweisen sichern und garantieren voraussagbare Abläufe. Langeweile stellt sich ein, die mit begrenzten Einflussmöglichkeiten und dem Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit einhergeht. All das entspricht aber andererseits auch dem Wunsch nach Sicherheit, Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und dem Bedürfnis, nicht unangenehm aufzufallen. Man möchte einerseits weg vom unheroischen Alltag, andererseits dessen angenehme Seiten aber auch nicht missen. Diese Zwiespältigkeit ist lästig, zumal man sich ständig aufgerufen fühlt, seine eigene unverwechselbare Ich-AG darzustellen. Verpflichtet, sein Leben autonom zu führen, es in eigener Regie unverwechselbar zu gestalten, zum Schmied des eigenen Glückes und zum Autor seiner eigenen Biographie zu werden, sieht man sich aber in den Niederungen des unheroischen Alltags kontinuierlich an diesen Sollwerten scheitern. Schon ist wieder die miese Stimmung da, für die Abhilfe geschaffen werden muss.
    Aber nicht nur die Einzigartigkeit der eigenen Person stellt sich nicht so recht ein. Auch das Erleben des eigenen Körpers geht irgendwie verloren oder ist nur noch eine ferne Erinnerung. Körperliche Empfindungen und Betätigungen beschränken sich auf das Bespielen von PC- Tastaturen oder Mobiltelefonen, und es kann schon eine sensationelle Körpererfahrung sein, das Display eines iPhones oder eines iPads zu streicheln. Mit dem Verlust des Körpergefühls geht aber auch die Auflösung des Gefühls für Raum und Zeit einher. Internet, Video- und Telefonkonferenzen können überall und zu jeder Zeit stattfinden, und es müssen keine Distanzen dazu überwunden werden. Im Gegenzug erhofft sich der Held des Extremsports durch seine sportlichen Heldentaten einen Ausweg aus dieser Situation.
    Risiko- und Extremsport ermöglichen dem Helden seltene und außergewöhnliche Erlebnisse. Er hofft, seine eigene Macht- und Bedeutungslosigkeit zu überwinden, wenn er sich in einem Akt der Selbstermächtigung Risiken, Wagnissen und Gefahren aussetzt, deren Ausgang allein von ihm selbst und seinem Handeln abhängt. Es kommt nun einzig und allein auf ihn an. Er muss sich dabei weder mit sich selbst noch mit anderen auseinandersetzen, er muss weder mit sich selbst noch mit anderen Gespräche führen oder im Gespräch bleiben. Er kann verstummen. Die Heldentat verspricht ein einzigartiges Einsamkeitserlebnis. Der Läufer, der Schwimmer, der Kletterer kann mit seinem Schmerz allein sein. Er kann sich, ja er muss sich ganz auf den Kampf konzentrieren, den Kampf gegen das Schicksal, aber noch viel mehr auf den Kampf gegen sich selbst.
    Von Kompromissen, Zwiespältigkeiten, von Zögern und Zaudern befreit, kann er sich ganz auf den Hauptgegner konzentrieren: auf sich selbst. Es ist der Kampf gegen den altbekannten inneren Schweinehund. Es ist der Kampf gegen die widersprüchlichen Stimmen in ihm. Es ist der Kampf gegen die Stimme der Vernunft, und es ist der Kampf gegen die Sehnsucht nach Ruhe, gegen das unheroische Aufgeben.
    Dieser Kampf gegen sich selbst setzt auf den Sieg durch Selbstüberwindung. Aufgeben erscheint dann irgendwann unmöglich, wäre Niederlage. Ein Desaster, das schwerer wiegt als die physische Qual oder gar der Tod. Der Kampf wird zu einem Kampf gegen die Scham
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