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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Autoren: Arnold Retzer
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durch Krankheit und mit den optimistischen Mitteilungen, die einem Kranken zugemutet werden.
DIAGNOSE KREBS
oder
ALLES WIRD GUT

Erst kam der berühmte
Schlag vor den Bug.
Zuvor war ich dumm,
Hernach war ich klug.

Dann folgte der klassische
Schlag ins Kontor.
Darauf war ich klüger
Als jemals zuvor.

Undenkbar, dass solch einem
Blitzklugen Mann
Noch irgendein Tod
Etwas anhaben kann.

Der Krieg gegen den Krebs und die Hoffnung, den Tod zu besiegen
    Der Krebs muss nicht unbedingt, wie gern empfohlen, als Chance verstanden oder gar, wie es auch hier und da vorgeschlagen wird, als Geschenk willkommen geheißen werden. Er kann auch zum Feind erklärt werden, gegen den man siegreich Krieg zu führen hat.
    Kriege werden an vielen Fronten geführt. Oft wird auch weiterhin erbittert gekämpft, wenn die Hoffnung, den Krieg gewinnen zu können, sich schon als große Illusion erwiesen hat. Selbst wenn sich diese Einsicht durchsetzt, bleibt unklar, wie ein solcher Krieg beendet werden könnte, ob er überhaupt beendet werden kann.
    In einer Anzeige von US Oncology vom 8. August 2010 in der New York Times wird ausgeführt:
    »Vereint werden wir gewinnen – Der Krebs ist groß. US Oncology ist größer. US Oncology hat den Kampf mit dem Krebs aufgenommen. Als die landesweit größte Kampforganisation gegen den Krebs haben wir mehr als 1300 verbündete Onkologen. Wir haben über 200 Stützpunkte in 38 Bundesstaaten, und wir sind in Kontakt mit mehr als 850000 Amerikanern pro Jahr. Das bedeutet, dass wir Wissen und Erfahrungen haben, auf die sich jeder Patient stützen kann.« [38]  
    Gekämpft wird hier um die Kontrollhoheit über das Leben, über Gesundheit und Krankheit. Zugleich richtet sich dieser Kampf aber auch gegen den Tod, den man zu besiegen hofft.
    Kriege können nur gewonnen werden, wenn man es mit schlagbaren Gegnern zu tun hat oder mit Gegnern, die sich ergeben. Wenn der Kriegsgegner nun der Krebs ist, kann der Krieg nur gewonnen werden, wenn der Krebs vernichtet werden kann bzw. sich ergibt. Da er beides nicht immer tut, werden Krebskriege zwar hoffnungsvoll, aber meist dann auch bis zum Tod geführt. Leider bedeutet das in vielen Fällen nicht den Tod des Krebses, sondern den Tod des Patienten, auch wenn der Krebs mit dem Patienten stirbt.

    Fest steht: Wir alle werden sterben. Die statistische Todeserwartung liegt in Deutschland für Männer etwa beim 77. Lebensjahr und für Frauen etwa beim 82. Lebensjahr. Das Sterben wird mit einer etwa 50%igen Wahrscheinlichkeit im Krankenhaus stattfinden. Bezeichnenderweise taucht der Begriff Todeserwartung in den Statistiken nicht auf, sondern der der Lebenserwartung. Haben wir die Hoffnung, der Tod werde vielleicht schlussendlich doch vermeidbar sein? Immerhin glauben etwa 40% der Deutschen in den alten Bundesländern an ein Weiterleben nach dem Tod und 13% in den neuen Bundesländern. Wobei in Gesamtdeutschland 41% der jüngeren Deutschen (unter 30 Jahren) an ein Weiterleben nach dem Tod glauben, aber nur 32% der älteren Deutschen (über 60 Jahren). In jungen Jahren scheint es noch leichter, an die eigene Unsterblichkeit zu glauben. [39]  
    Bis zum Alter von 25 Jahren besteht für viele das gute Leben im Lernen und täglich neuen und überraschenden Eindrücken. Die 35jährigen verstehen darunter Geldverdienen, Erfolg und Karriere und/oder Familiengründung. Vieles scheint für viele noch möglich. Manche müssen dann aber spätestens ab 50 begreifen, dass man sterben muss und dass man – gemessen daran, worauf man seine Hoffnung setzte – irgendwie vielleicht doch gescheitert ist. Man ist in der Lebensphase der Herzinfarkte, der gescheiterten Ehen, der Hormonsubstitutionen, des Karriereknicks, der hoffnungslosen Liebe zu dreiundzwanzigjährigen Frauen und der Schlaflosigkeit im Morgengrauen. Manche ziehen eine Lebensbilanz: Es geht zwar irgendwie immer weiter, aber eben nicht mehr schnurstracks in die gute alte Zukunft von morgen und übermorgen. Die Perspektive wechselt. Plötzlich, so scheint es manchem, hat die Biologie die Macht übernommen: biochemische Prozesse, die auch mit noch so viel gutem Olivenöl, Anti-Aging-Therapien, Vitaminpräparaten, Fatburnern, Testosteronsalben oder Entschlackungskuren in Südtirol oder Vorpommern nicht aufzuhalten sind.
    Wir sind durch unsere enorm gestiegene Lebenserwartung und durch die geringe Kindersterblichkeit verwöhnt oder vielleicht besser: erfahrungsbehindert. Wir können inzwischen lange Zeit ohne den Tod
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