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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Autoren: Arnold Retzer
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gleichgültig ob unbekleidet oder bekleidet. Wobei natürlich die Nacktheit die Versäumnisse meist deutlicher hervortreten lässt.
    Ein Mensch, der sich nach heutigen Vorstellungen korrekt verhält, ist eine Person, die durch hoffnungsvolles Handeln auf sich selbst und ihre Umwelt einwirkt und sich selbst und ihre Umwelt gestaltet. Der Tod bedeutet das endgültige Ende dieses Gestaltens und daher die radikalste Infragestellung des persönlichen Selbstbildes als handelndes Subjekt. Das gilt nicht nur für die eigene Person, sondern manchmal sogar noch radikaler im Angesicht des Todes anderer. Auch hier erlebt sich der Hinterbliebene als ein Subjekt, dessen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten radikal in Frage stehen.
    Der Tod wird dann zu einem Problem der Hinterbliebenen, weil sie in ihren Vorstellungen von Machbarkeit und damit in ihren Hoffnungen radikal enttäuscht worden sind. [40]  

Vom Ende, dem Beenden und der Hoffnung auf Unschuld
    Frau Käfer, eine 86-jährige Dame mit fortgeschrittener seniler Demenz wird in schlechtem Allgemeinzustand in eine Klinik eingeliefert. Sie verweigert seit Tagen jegliche Nahrung und Flüssigkeit. Sie reagiert kaum noch auf Schmerzreize. Nach einigen Tagen der Flüssigkeitszufuhr über einen Tropf findet ein Gespräch der Stationsärztin mit Herrn Käfer, dem 87-jährigen besorgten und verunsicherten Ehemann statt. Die Ärztin erläutert den Plan einer Magensonde und bittet den Ehemann um sein Einverständnis für diesen Eingriff. Herr Käfer ist spontan nicht zu einem Einverständnis bereit. Die Ärztin erklärt, dass es keine Eile habe und er sich in Ruhe mit der Familie besprechen könne.
    Herr Käfer hat sein ganzes Erwerbsleben als einfacher Arbeiter ohne Berufsausbildung verschiedenste Tätigkeiten ausgeübt und unter großen Entbehrungen ein kleines Haus gebaut, in dem er zusammen mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Schwiegertochter wohnt. Er hat dem Sohn das Haus notariell übertragen, nachdem dieser sich verpflichtet hatte, die Pflege der Eltern zu übernehmen.
    Herr Käfer hat seit Jahren keine Nacht mehr durchgeschlafen, weil er jede Nacht den unruhigen Schlaf seiner Frau überwachen musste. Er hatte während dieser Nächte öfter den Gedanken, seine Frau zu erwürgen und sich anschließend selbst umzubringen. Zusätzlich belastet ihn, dass seine drei Kinder – er hat einen Sohn und zwei Töchter – sich nicht verstehen und sich Neid und Missgunst zwischen ihnen breitgemacht hat. Das schmerzt ihn besonders auch deshalb, da er ein Leben lang versucht hatte, alle gerecht zu behandeln.
    Er befürchtet, dass bei einer nicht gelegten Magensonde seine Frau kläglich verhungern und verdursten wird. Er hat die Vorstellung, sie werde dann »innerlich verbrennen«, und man würde seine Frau auf diese Weise töten. Andererseits ist er sich aber auch nicht sicher, ob er seiner Frau mit der Magensonde wirklich einen Gefallen tun würde.
    Die Schwiegertochter pflegt seit Jahren ihre Schwiegermutter. Die Pflege gestaltet sich immer schwieriger. Erschwerend kommen die neidischen Blicke ihrer Schwägerinnen, der beiden Töchter von Herrn Käfer, hinzu, die ihr übelnehmen, dass ihr und ihrem Mann das Haus übertragen worden ist. Man meidet sie, wo es nur möglich ist, und sie fühlt sich abgewertet. Seit Monaten hat sie schon massive Kniebeschwerden, die sich verstärken, da sie sehr oft die Schwiegermutter im ersten Stockwerk des Hauses auch des Nachts allein umbetten und waschen muss. Sie wünscht sich sehnlich, dass diese Quälerei der Pflege vorbeigehe. Sie fürchtet inzwischen um ihre Ehe, da tagelang nur eisiges Schweigen zwischen ihr und ihrem Mann herrscht oder sie sich nur noch anschreien.
    Herrn Käfers Töchter liegen seit Jahren im Streit mit dem Bruder und meinen, dass der Bruder und seine Frau auf billige Weise an einen unverhältnismäßig großen Erbteil gekommen seien. Die Schwestern sehen in einer Nichteinwilligung zur geplanten Magensonde einen Mordanschlag der faulen Schwägerin und des erbschleichenden Bruders auf ihre demente Mutter.
    Die älteste Tochter von Frau Käfer würde gerne alles für den Vater und für die Mutter tun, aber sie hat kaum Gelegenheit dazu, da ihre Schwägerin die Pflege übernommen hat. Ihr Ehemann hält das Ganze für ein Affentheater, an dem insbesondere seine Schwägerin (das falsche Luder!) schuld sei. Sein Schwiegervater werde ausgenommen wie eine Weihnachtsgans, und sie habe sich nun auch noch auf billige Weise das
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