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Und hinter dir die Finsternis

Und hinter dir die Finsternis

Titel: Und hinter dir die Finsternis
Autoren: Mary Higgins Clark
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PROLOG
    MEIN VATER HAT ALS Landschaftsgärtner auf dem Landsitz der Carringtons gearbeitet. Mit zwanzig Hektar war es eines der letzten noch in Privatbesitz befindlichen Anwesen dieser Größenordnung in Englewood, New Jersey, einer noblen Ortschaft, über die George-Washington-Brücke drei Meilen westlich von Manhattan gelegen.
    Vor zweiundzwanzig Jahren, als ich sechs Jahre alt war, fuhr mein Vater an einem Samstagnachmittag im August hinüber, obwohl er an diesem Tag frei hatte, um die erst kürzlich installierte Außenbeleuchtung zu kontrollieren. Für den Abend hatten die Carringtons zu einer Dinnerparty eingeladen, zu der sie zweihundert Gäste erwarteten. Weil er wegen seines Alkoholproblems bereits Schwierigkeiten mit seinen Arbeitgebern hatte, befürchtete Daddy, er könnte seinen Job verlieren, wenn die über den gesamten Garten verteilten Lampen nicht richtig funktionierten.
    Weil er mit mir allein lebte, blieb ihm keine andere Wahl, als mich mitzunehmen. Er ließ mich auf einer Bank in der Nähe der Terrasse zurück und schärfte mir ein, mich nicht von der Stelle zu rühren, bis er zurückkäme. Dann fügte er hinzu: »Es könnte ein bisschen länger dauern. Falls du aufs Klo musst, dann geh zum Hintereingang um die Ecke. Gleich dahinter befindet sich die Toilette für die Bediensteten.«

    Mehr brauchte er mir nicht zu sagen. Ich hatte zugehört, als mein Vater meiner Großmutter das Innere des vornehmen Herrenhauses beschrieben hatte, und sofort hatte ich mir mit überbordender Fantasie die Räumlichkeiten auszumalen versucht. Das Haus war im siebzehnten Jahrhundert in Wales errichtet worden. Es gab sogar eine verborgene Kapelle darin, in der ein Priester sowohl wohnen als auch in aller Heimlichkeit die Messe zelebrieren konnte, denn es war damals die Zeit, in der unter Oliver Cromwell der blutige Versuch unternommen wurde, auch noch die letzten Spuren des Katholizismus in England zu tilgen. Im Jahr 1848 ließ der erste Peter Carrington das Herrenhaus abtragen und Stein für Stein in Englewood wieder aufbauen.
    Der Beschreibung meines Vaters hatte ich entnommen, dass eine schwere Eichentür zur Kapelle führte und dass sie sich im hintersten Teil des ersten Stockwerks befand.
    Ich musste sie unbedingt sehen.
    Nachdem mein Vater außer Sichtweite war, wartete ich noch fünf Minuten und rannte dann zum hinteren Eingang, den er mir gezeigt hatte. Gleich danach fand ich zu meiner Rechten das hintere Treppenhaus, und ich stieg lautlos die Stufen hinauf. Für den Fall, dass ich jemandem begegnen sollte, hatte ich mir die Entschuldigung zurechtgelegt, ich sei auf der Suche nach einer Toilette; was ja zum Teil der Wahrheit entsprach, wie ich mir einredete.
    Im oberen Stockwerk angekommen, schlich ich auf Zehenspitzen und mit wachsender Beklommenheit einen Gang nach dem anderen entlang, da ich immer wieder auf eine unerwartete Biegung stieß. Doch dann sah ich sie: die schwere Eichentür, die mein Vater beschrieben hatte, und die in dem durchgehend modernisierten Inneren des Hauses so völlig aus dem Rahmen fiel.
    Das Glück, bei meinem Abenteuer niemandem begegnet zu sein, flößte mir neuen Mut ein, und so hastete ich die letzten Schritte auf die Tür zu. Sie knarzte, als ich an dem Griff
zog, doch dann ließ sie sich so weit öffnen, dass ich hineinschlüpfen konnte.
    Drinnen fühlte ich mich in eine andere Zeit versetzt. Der Raum war viel kleiner, als ich erwartet hatte. Ich hatte sie mir ähnlich wie die Lady Chapel in der St. Patrick’s Cathedral vorgestellt, die meine Großmutter immer, wenn wir zu einem unserer seltenen Einkaufsbesuche in New York waren, aufzusuchen pflegte, um eine Kerze für meine Mutter anzuzünden. Und jedes Mal erzählte sie mir, wie wunderschön meine Mutter ausgesehen hatte, als sie und mein Vater dort getraut wurden.
    Die Wände und der Boden dieser Kapelle waren aus Stein, die Luft fühlte sich klamm und feucht an.
    Die religiöse Ausstattung des Raumes beschränkte sich auf eine Statue der heiligen Jungfrau Maria, von der die Farbe abblätterte, und eine vor ihr aufgestellte elektrische Votivkerze bildete die einzige Lichtquelle und hüllte den Raum in schwaches Dämmerlicht. Zwei Reihen Holzbänke standen vor einem kleinen hölzernen Tisch, der wohl als Altar gedient hatte.
    Während ich all das betrachtete, hörte ich plötzlich das knarzende Geräusch der Tür. Jemand war im Begriff einzutreten. Mir blieb nur eins übrig: Ich hastete nach vorn, ließ mich zwischen den
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