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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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Laubengang, ein harmloser Siebzigjähriger, der die Sonne genießt. In Wahrheit ist er auf Kampf aus. Er drückt sich so lange vor seiner Wohnung herum, bis er an irgendjemandem sein Mütchen gekühlt hat. Normalerweise an Albert.
    »Müsstest du nicht auf der Arbeit sein?«, raunzt er ihn an.
    »Ich wollte nur nach Gloria sehen.« Sofort tut es Albert leid, dass er sich gerechtfertigt hat. Das ist das Problem mit Max: Sie kennen sich seit Urzeiten, und aus irgendeinem Grund ist ihnen die Hackordnung aus ihrer Jugend über die Jahre erhalten geblieben. Es würde ihm merkwürdig, wenn nicht gar gefährlich vorkommen, ihn nicht zu beachten.
    »Hoffentlich hast du einen Fallschirm mitgebracht«, sagt Max, während er schon nach Alberts Plastiktüte greift und neugierig hineinsieht – doch sie enthält lediglich ein Töpfchen Kitt und eine Flasche Desinfektionsmittel. Albert reißt ihm die Tüte weg und läuft weiter zu seiner Wohnung.
    »Aber immer noch besser, die Katze springt aus dem Fenster als zwischen meinen Blumen herum«, ruft Max hinter ihm her. Er wirft einen weniger liebevollen als vielmehr besitzheischenden Blick auf seine Topfpflanzen. »Wenn ich das Viech dabei erwische, wie es sich an meinen Töpfen vergreift, bringe ich ihm persönlich das Fliegen bei.«
    »Wieso sollte sich eine Katze für deine Blumen interessieren?«
    »Spinnst du? Katzen sind doch ganz verrückt nach Blumen. Sag bloß, das weißt du nicht? Herrschaftszeiten, du hast eine Katze und weißt das nicht?« Er lacht, sein Tag ist gerettet. »Bei dem bisschen Grips, das du im Kopf hast, wundert es mich gar nicht, dass du seit Jahrzehnten bei der Post versauerst.«

9
    Bob hat sich mit schlechten Nachrichten zwar schon immer schwergetan, aber dass er sich auf der Toilette einschließt, hat Carol noch nie erlebt.
    »Bob, nun komm schon. Mach die Tür auf, ja?«
    »Ich möchte noch ein bisschen hier drin bleiben.«
    »Du bist in einer Toilette, Bob. Sollen wir nicht nach Hause fahren?«
    »Nur noch ein bisschen.«
    Da im Wartezimmer mindestens drei Patienten neugierig die Ohren spitzen, tritt Carol fürs Erste den Rückzug an.
    »Er wirkte völlig gefasst, als er hineingegangen ist«, sagt die Arzthelferin. »Die Hysterischen erkennt man normalerweise sofort.«
    Doktor Singh tritt zu ihnen, ein Bild der Gelassenheit.
    »Wie geht es ihm?«, brummt er mit seinem weichen indischen Singsang. Er nuschelt so stark, dass Carol im ersten Moment denkt, er erkundige sich nicht nach Bobs, sondern nach ihrem Befinden.
    »Er spricht«, antwortet die Arzthelferin.
    Doktor Singh nickt. Offenbar ein gutes Zeichen.
    »Ich habe Ihrem Mann empfohlen, einen Spezialisten zu konsultieren«, sagt er nüchtern. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich damit eine Panikattacke auslösen würde.«
    Es ist schwer zu sagen, ob er beeindruckt ist oder ob Bob seine Erwartungen enttäuscht hat – seine gesammelte Berufserfahrung durch einen überemotionalen Mann in der Toilette über den Haufen geworfen.
    »Dann denken Sie also, dass es etwas Ernstes ist?«, fragt Carol.
    Doktor Singh zuckt mit den Schultern. »Ich bin kein Experte auf dem Gebiet, aber wenn sich meine Hoden so anfühlen würden wie seine, wäre ich definitiv beunruhigt.«
    Stumm wechseln die beiden Frauen einen betretenen Blick. Dieses Thema möchten sie lieber nicht weiter vertiefen.
    Auf der Straße nähert sich unter Sirenengeheul ein Feuerwehrauto.
    »Ich habe Ihrem Mann geraten, sich deswegen keine grauen Haare wachsen zu lassen«, fährt Doktor Singh fort. »Beim gegenwärtigen Stand der Dinge wird ihm vermutlich schlimmstenfalls der Hoden entfernt und durch einen gleich schweren Silikonbeutel ersetzt, damit das …« Er gerät ins Stocken, bis er endlich, begleitet vom Schließen seiner Faust, das passende Wort gefunden hat. »… Empfinden erhalten bleibt. Es ist im Grunde ein völlig simpler Eingriff. Natürlich geht das Ganze nicht ohne Schmerzen und andere Beschwerden ab, und das Selbstwertgefühl bekommt ebenfalls einen Dämpfer, aber ich habe ihm gesagt, auch wenn er nur noch einen Hoden hat, soll er die Sache tragen wie ein Mann.«
    Allmählich kann Carol Bobs Panik verstehen. Es würde sie nicht wundern, wenn der Arzt ihm vorgeschlagen hätte, die Operation gleich an Ort und Stelle mit dem Brieföffner vorzunehmen. »Warum nicht?«, hört sie ihn im Geiste sagen. »Die Hoden bluten stark, das ist wahr, aber Sie haben es ruck, zuck hinter sich. Ein scharfer Schnitt, ein kurzes Reißen, und es ist
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