Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht über Algier

Nacht über Algier

Titel: Nacht über Algier
Autoren: Yasmina Khadra
Vom Netzwerk:
 
    Yasmina Khadra
     
    Nacht über Algier
     
     
    scanned 06-2006/V1.0
     
    Ein schonungsloser und mitreißender Roman, ein Porträt Algeriens an der Schwelle zum Fundamentalismus.
     
    ISBN: 978-3-351-03064-3 Original: La part du mort Aus dem Französischen von Frauke Rother Verlag: Aufbau-Verlag Erscheinungsjahr: 1. Auflage 2006
     
     
    Teil I
     
    Elftes Gebot:
    Wenn die Zehn Gebote deine Seele nicht haben retten können, wenn dir noch immer alles gleichgültig ist, dann sage dir, daß du nicht viel taugst.
     
    1
     
    Man könnte meinen, die Erde hätte aufgehört sich zu drehen.
    Mit jeder Minute habe ich das Gefühl, mich aufzulösen, jeder Augenblick, der vergeht, scheint ein Stück von mir mit sich fortzureißen.
    Eine trostlose Ruhe lastet über der Stadt. Alles plätschert vor sich hin. Die Leute gehen ihren Geschäften nach, die alten Mütterchen dämmern vor sich hin - und kein einziges Verbrechen in Sicht. Für einen dynamischen Polizeikommissar ist das wie ein Schiff auf dem Trockendock.
    Nachdem der Verrückte mit dem Skalpell unschädlich gemacht worden ist, atmet Algier wieder auf. Man geht spät schlafen und kommt nur schwer aus den Federn. Der Wohlfahrtsstaat gibt sich dem Nichtstun genauso stumpfsinnig hin wie seine Entscheidungsträger. Von morgens bis abends hängen die Leute faul herum, bohren in der Nase, den Blick ins Leere gerichtet. Man ahnt wohl, daß etwas Schreckliches in der Luft liegt, aber niemand schert sich darum. Wir Algerier handeln nicht vorausschauend, sondern erst, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist.
    Die Sintflut steht kurz bevor, aber wir tun so, als ginge uns das nichts an. Unsere hochheiligen Führer sind auf der Hut, die Mülltonnen quellen über von Lebensmitteln, und die Wirtschaftskrise, die den Planeten bedroht, halten wir für einen Kometen.
    Mit einem Wort, wir leben wie im Schlaraffenland.
    Es hat die ganze Nacht geregnet. Bis zum Morgen tobte der Wind über der Stadt. Erst mit der Dämmerung lichtete sich der Himmel, und über den Dächern der Stadt brach eine trübe Rembrandtsche Sonne durch. Der Winter hat noch nicht mal seine Grautöne eingepackt, und schon ist der Sommer da, schaltet den Frühling einfach aus. Wie Sternschnuppen strahlen die jungen Mädchen mit ihren hübschen Puppengesichtern und ihren wippenden Hintern in den Straßen. Eine Augenweide. Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, würde ich sie alle heiraten.
    Ich versuche etwas Ungewöhnliches an der Wand gegenüber zu entdecken, um darüber nachsinnen zu können. Seit Monaten drehe ich Däumchen. Kein Einbruch, keine Hundeentführung - nichts. Als ob Algier sich weigerte, mit mir zusammenzuarbeiten.
    Ich habe meinen Kaffee bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken, und die zahllosen Arabesken, die ich wie abwesend auf meine Schreibunterlage gekritzelt habe, sind alle entziffert; aber nichts zu machen, die Zeiger der Wanduhr rühren sich nicht. Es ist 15 Uhr 15, und allmählich wird mir die Zeit lang.
    Bedrohlich und höhnisch grinsend blickt der Rais, der Präsident der Republik, aus seinem Goldrahmen auf mich herab. Tausendmal bin ich schon aufgestanden und wollte ihn abhängen, aber tausendmal fürchtete ich, den Zorn des Himmels auf mich zu ziehen. Einsichtig und geduldig ertrage ich also mein Schicksal, bis uns die nächste Revolution einen weniger trockenen Windgott beschert.
    Da kommt auf einmal Lino, ohne anzuklopfen, in mein Kabuff reingeschneit.
    »He, Kommy, was sagst du dazu?« platzt er los und dreht sich dabei, in Schale geworfen wie ein monegassischer Prinz, um die eigene Achse.
    »Tolle Leistung, für so eine Pfeife wie dich.«
    »Gefall ich dir nicht?«
    Ich zeige ihm meinen Ehering.
    Er grinst, geht zur Fenstertür und betrachtet sich darin. Sichtlich zufrieden, setzt er seine Imperialistenbrille wieder auf und streicht sich behutsam über die Schmalztolle. Er zeigt mir das Innenfutter seines Jacketts.
    »Pierre Cardin: 8500 Mäuse. Gnadenlos. Hose von Lacoste: 4500. Hemd von Kenzo, reine Seide: 2245. Und Schuhe von Dodoni, echt Krokodil, Kho [ (arab.) Kurzform zu Khouja: Bruder; im Maghreb weitverbreitete Floskel, speziell in Algier (und dort in der Kasbah und in Bab El-Oued)] - für 9990.«
    »Jetzt begreife ich endlich, warum so manche Rebellion mangels Pulver im Sande verlaufen ist. Lotto oder Erpressung?«
    »Lohnstreifen und Sparschwein ... Wie findest du mich?«
    »Seltsam.«
    »Du kannst einem wirklich die Laune verderben, Chef! Übrigens, rate mal, wohin
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher