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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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hängt, seine Libido nahezu komplett lahmgelegt hat. Dass sie ihn trösten kann, ohne befürchten zu müssen, dass eine simple Umarmung zum Mitleidssex ausartet.
    Und dann hört sie die Stimme des anderen Mannes. Eine Erinnerung, die sie unterdrücken, aber nicht auslöschen kann. Eine Erinnerung, die die Jahre heil überdauert hat, in denen so viel anderes in die Brüche gegangen ist.
    »Du musst heute Abend nicht zu ihm zurückgehen«, sagt er. »Du kannst bei mir bleiben, wenn du willst.«
    Es ist ein Gefühl, als ob er ihr die Worte ins Ohr flüstert. Als wären seine Lippen nur wenige Zentimeter von ihrem Nacken entfernt.
    Genau wie damals stellt sie sich auch jetzt wieder vor, dass sie bei ihm bleibt. Sie wird ihr eigenes Glück über das von Bob stellen; alles andere muss sich finden. In diesem Augenblick brennt die Erinnerung so stark, dass ihr ebenfalls die Tränen kommen.

12
    Seit vierzig Jahren gehört das Fernsehen zu Alberts Abendritual. Oder eher das Sitzen vor dem Fernseher. Was er sich ansieht – wovon er sich berieseln lässt –, ist ihm ziemlich einerlei, weil sowieso nur Mist kommt, ob Krimi oder bescheuerter Talentwettbewerb, alles spiegelt nur die Brutalität und Mittelmäßigkeit des Alltags wider. Er sitzt einfach jeden Abend vor dem Kasten und freut sich, dass er wenigstens etwas Gesellschaft hat.
    Als lebenslanger Postler hat er sich immer gern vorgestellt, dass andere Menschen ihre Abende damit verbringen, neue und alte Briefe von Kindern und guten Freunden zu lesen, über ihre Lieblingszeilen ins Schmunzeln geraten und sich mit ausführlichen, innigen Antworten abmühen.
    Er wirft einen Blick auf die Post, die er heute bekommen hat: nur Werbung. Da er nie ein Eigenheim besessen hat, kommt es ihm so vor, als hätten es die Hochglanzbroschüren für günstige Hauskredite absichtlich darauf angelegt, ihm das Gefühl zu geben, eine Unperson zu sein, die falsche Sorte Ruheständler – »Herzlichen Glückwunsch, dass Sie es bis zu diesem Alter geschafft haben. Aber leider haben Sie Ihr Leben vermurkst. «
    Was nicht heißen soll, dass er nie persönliche Post bekommt. Hin und wieder schickt ihm ein alter Freund Karten aus Australien, aber auch die enthalten nichts als Schwärmereien über den blauen Himmel und die Enkelkinder und klingen immer etwas bemüht, als ob er weniger aus Freundschaft schreibt als aus Pflichtgefühl.
    Nach dem Tod seiner Frau hatten solche Freundschaften an Intensität zugenommen, waren fast erdrückend geworden vor lauter Fürsorge und Anteilnahme. Dann waren sie nach und nach wieder verebbt, wie ausgebrannt von all der Anstrengung. Für Albert war es ein Gefühl, als säße er in einem Zimmer, indem plötzlich die Glühbirne kaputt gegangen ist. Einen kurzen Augenblick lang hatten seine Freundschaften hell geleuchtet, im nächsten fand er sich allein im Dunkeln wieder.
    »Wir hätten auch auswandern können, nicht wahr?«
    Ein kurzer Blick, und Gloria sieht gleich wieder weg. Keine Frage, diesmal ist die andere gemeint.
    »Wenn Harry und seine Frau es fünfzig Jahre miteinander ausgehalten haben, hätten wir das mit Leichtigkeit geschafft. Die alten Muffel.«
    Er lächelt in sich hinein, froh, dass er noch immer mit ihr reden, sie nach all den Jahren noch immer spüren kann. Sie ist wie ein amputierter Körperteil, fort, aber stets gegenwärtig. Und je älter er wird, desto unwichtiger ist es ihm, dass er hier sitzt und Selbstgespräche führt. Denn die Erinnerung an sie wird klarer und klarer, während alles andere allmählich verschwimmt.

13
    Die ganze Woche kommt Carol vor wie eine Katastrophe in Zeitlupe. Dass sie sich ein paar Tage freinehmen muss, ist da noch ihre geringste Sorge.
    »Ich wollte Bobs Knoten nicht erwähnen. Da habe ich lieber behauptet, ich wäre krank«, sagt sie zu Helen, während sie durch den Park gehen, dick eingemummelt gegen die herbstliche Kühle. »Meinst du etwa, die hätten mich gefragt, was ich habe oder so? Man hätte meinen können, sie wüssten eh längst alles.«
    »Wie hält Bob sich?«
    »Nicht gut. Aber dasselbe hätte ich auch über unsere Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft sagen können. Innere Stärke ist nicht so sein Ding. Zum Glück hat er World of Warcraft , damit kann er sich ablenken. Er ist echt ein großes Kind.«
    »Und wie geht es dir?«
    »Ach, mir … Ich mache dasselbe wie immer. Passe auf ihn auf, damit er nicht unter die Räder kommt.«
    »Was ja gerade jetzt genau das Richtige
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