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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12
Autoren: Valentin Senger
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Mama
    In meiner frühesten Kindheitserinnerung sehe ich mich unter einem runden Tisch mit einem Blechclown spielen, der auf einem Karren sitzt und beim Fahren auf einen Esel einschlägt. Um mich herum sind viele Beine, einige mit Hosen, einige mit Seidenstrümpfen. Ein Paar von denen mit Seidenstrümpfen gehört Mama. Wenn ich mich mit meinem blechernen Eselskarren etwas zu weit unter dem Tisch hervorwage, ziehen sich an dieser Stelle die Beine unter den Stuhl zurück. Das macht auf dem hölzernen Fußboden jedesmal ein schürfendes Geräusch. Ab und zu tatscht mir jemand auf den Kopf, was eine Liebkosung sein soll. Neben mir auf der Erde liegt noch eine grüne Schlange aus vielen Holzgliedern. Wenn ich die hölzerne Gliederschlange am Schwanz packe und sie hochhebe, bewegt sie sich wie lebendig, sogar die Zunge kommt heraus. Über mir redet und redet es, endlos.
    Die Beine umschließen mich wie die Gitterstäbe eines Käfigs. In der Runde geht es sehr laut zu, nicht selten wird gestritten, es hört sich zumindest so an, und Mama ist die Wortführerin, ihre helle Stimme übertönt die der andern. Obwohl ich diese Stimme den ganzen Tag höre, kommt sie mir nun fremd vor, anders als sonst. Auch Mamas Lachen klingt anders. Sie ist zwar hier, es wäre mir ein leichtes, ihre Beine zu berühren, und doch ist sie weit weg. Ein dünnrandiger Zwicker, den sie bei solchen Zusammenkünften aufsetzt, verstärkt noch diesen Eindruck. Bei der Hausarbeit und beim Zeitunglesen hat sie ihn nie auf. Wenn alle Platz genommen haben, holt sie ihn mit Daumen und Zeigefinger, die andern Finger abgespreizt, aus dem schwarzlackierten Blechetui heraus, zieht ihn mit beiden Händen auseinander und setzt ihn behutsam auf die Nase. Wie eine Wand steht der Zwicker zwischen ihr und mir.
     
    So weit ich mich zurückerinnern kann, war Mama geschäftig. Ihr Arbeitstag hatte sechzehn Stunden, ihre Arbeitswoche sieben Tage. Sie versorgte nicht nur den ganzen Haushalt einer fünfköpfigen Familie, sondern nähte auch noch alles, was wir Kinder anzogen. Aber ihr Selbstgenähtes war nur praktisch, nie kleidsam, nur auf Zuwachs berechnet, nie ganz passend, die Mäntel waren zu dick, die kurzen Hosen zu lang, die Hemden zu weit. Damit machte sie uns zum Gespött in der Straße und zu Außenseitern in der Schule. Als sie mir einmal eine alte Einkaufstasche aus braunem Wachstuch zum Rucksack für die Ferienspiele umnähte, riefen die anderen Kinder mir einen Sommer lang »Taschenbuckel« nach. Auch für andere Leute nähte sie. Sie wusch unsere Wäsche und die unseres Untermieters, eines jüdischen Reisenden, der ihr seine schmutzigen Sachen eigentlich zur Weitergabe an die Wäscherei überließ. Damit die Schwindelei nicht auffiel, mußte meine Schwester Paula jahrelang fingierte Rechnungen der Wäscherei schreiben, und der Untermieter tat so, als merke er es nicht; aber Paula, die ihm die Rechnung mit der sauberen Wäsche zu bringen hatte, wußte genau, daß er nur so tat. Mama tapezierte, strich Decken und Türen, polsterte das Sofa auf, und außerdem dolmetschte sie noch gelegentlich bei Gericht und machte Übersetzungen aus dem Russischen ins Deutsche.
    Wenn man mich heute fragte: Wie hat sie das alles nur geschafft?, dann müßte ich, mit nach oben gewendeten Handflächen, die jüdische Antwort geben: Nun, sie hat es geschafft! Wie, weiß ich nicht, obwohl ich ihr doch täglich zuschaute. Sie legte die eine Arbeit nur aus den Händen, um die andere zu beginnen, nie ruhte sie aus, kannte weder Mittagsschlaf noch Kaffeepause. Als sie schließlich durch eine schwere Herzkrankheit gezwungen wurde, ständig im Bett zu liegen, begann für sie eine schlimme Zeit.
    Die Geschäftigkeit von Mama war zwanghaft, es schien, daß sie es darauf anlegte, sich mit der Arbeit allmählich zugrunde zu richten. Sie wurde böse, wenn man ihr die Arbeit wegnehmen wollte, wenn Papa ihr sagte, sie solle sich einmal hinsetzen und zehn Minuten nichts tun. »Ein Chöchem (: ein kluger Mann, hier in der Bedeutung von »Neunmalkluger«) bist du, ein großer«, konnte sie ihm darauf antworten, »und wer sonst macht die Arbeit? Du vielleicht?« Papa schwieg, und Mama arbeitete noch verbissener.
    Und als ob sie nicht gerade genug mit ihrem Haushalt und dem geschilderten Drum und Dran zu tun gehabt hätte, betätigte sie sich zudem in mehreren politischen Vereinigungen. Sie gehörte gleichzeitig dem Vorstand des linksorientierten Jüdischen Arbeiter-Kulturbunds, der
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