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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12
Autoren: Valentin Senger
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Antiimperialistischen Liga und einer Aktionsgemeinschaft zur Abschaffung des Paragraphen 218 an, war aktiv in der Roten Hilfe und der Internationalen Arbeiterhilfe, die beide der KPD nahestanden, und war auch Mitglied der KPD selbst. Fast jeden Abend mußte sie zu Versammlungen oder Sitzungen, oft kamen ihre politischen Freunde auch zu uns ins Haus, kamen und gingen, wann immer sie wollten und zu jeder Tageszeit, manchmal mitten in der Nacht. Unsere Wohnung war Umschlagplatz für Informationen, Treffpunkt und Schwatzecke für überarbeitete Funktionäre.
     
    Papa war tagsüber in der Fabrik und abends müde. Nach Feierabend holten Paula und ich ihn an der Hauptwache von der Straßenbahn ab. Dann hatte er immer ein paar Bonbons oder ein Stückchen Schokolade für uns, am Freitag aber, dem Zahltag, auch mal eine ganze Tafel oder ein kleines Spielzeug von einem der fliegenden Händler, die an diesem Tag rings um die Fabriktore gute Geschäfte machten. Er konnte, wenn er ausgeschlafen hatte, das heißt also an den Sonntagen, sehr witzig sein. In der Unterhaltung pflegte er jeden Gedanken mit einer russischen oder jüdischen Sentenz auszuschmücken. Fragte man ihn etwas, so antwortete er oft mit einem passenden Sprichwort. Das imponierte mir sehr. Auch nutzte er die jüdische Eigenart, auf eine Frage mit einer Gegenfrage zu antworten - etwa »Warum sollte ich?« oder »Warum sollte ich nicht?«
    So sehr ich ihn auch liebte, ich konnte ihm nicht verzeihen, daß er mir nie Vater, sondern immer nur Großvater war. Als ich geboren wurde, war er achtundvierzig, in meiner Erinnerung ein alter Mann mit dem typisch runden Rücken eines müden Gettojuden, in dessen Gekrümmtheit die ganze Tragik jüdischen Lebens ihren Ausdruck findet. Er war zu alt, um mit mir herumzutollen, zu alt, um mir ein verständnisvoller Freund zu sein, er war immer nur gut und gütig.
    Mama zerriß sich für uns Kinder, wenn es darauf ankam, für mich, für die zwei Jahre ältere Paula und für den fünf Jahre jüngeren Alex. Da sie sich aber noch für tausend andere Dinge zerriß, blieb ihr für uns nur wenig Zeit übrig, und am liebsten war es ihr, wenn wir sie nicht störten.
     
    Du hast in deinem Leben immer nur Gutes gewollt, Mama, für uns, deine Familie, und für andere, deine politischen Freunde. Du hast dich aufgeopfert. Dein Herztod war letzten Endes der Preis, den du dafür zahlen mußtest. Wenn es einen Gott gibt und wenn er gerecht ist, wird er seine Arme ausgebreitet, um dich geschlungen und dich lange festgehalten haben. Eine ganze Kindheit über habe ich mir gewünscht, daß du mich einmal so umarmen würdest. Aber du hattest nie Zeit dafür, warst immer mit anderen Dingen beschäftigt.
    Ich spüre noch die Küsse von Papa, seine Lippen, seinen Bart, weiß noch, wie er mich dabei festhielt. Deine Küsse, Mama, spüre ich nicht mehr. In Erinnerung ist mir nur noch der unangenehme Geruch, wenn du den Zipfel eines Taschentuchs über den Finger gezogen und draufgespuckt hast, um mir damit über die Nase oder den Mund zu wischen. Hast du mir jemals einen Kuß gegeben? Ich erinnere mich nicht mehr daran.
     

Der Revolutionär
    Im Dezember 1905 mußte Moissee Rabisanowitsch, Metallarbeiter und Sohn eines Getreidegroßhändlers, aus Rußland flüchten. Die zaristische Geheimpolizei, die Ochrana, war hinter ihm her. Moissee, der aus einer frommen jüdischen Familie stammte, hatte bis zu diesem Zeitpunkt, er war gerade fünfunddreißig Jahre geworden, ein sehr unruhiges Leben geführt. Er studierte an der Universität von Odessa Ingenieurwissenschaften, gehörte dort einem illegalen revolutionären Zirkel an und brach sein Studium nach fünf oder sechs Semestern ab, weil er zu der Meinung gelangt war, die politische Agitation unter der Arbeiterschaft zur Erhebung gegen den Zaren sei wichtiger als das Studieren. Er arbeitete mehrere Jahre in einer Eisenbahnausbesserungswerkstatt, wurde wegen umstürzlerischer Tätigkeit entlassen, vor ein Gericht gestellt, und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Während seiner Haft in einer alten Festung bei Odessa zog er sich ein Lungenleiden zu, das ihn bis zu seinem Lebensende quälte. Sein schrecklichstes Erlebnis in dieser Zeit war eine Auspeitschung vor allen Gefangenen, weil er mit anderen politischen Häftlingen gegen das schlechte Essen protestiert hatte. Nach seiner Entlassung fand er Arbeit in einem französischen Stahlwerk bei Odessa. Er organisierte zusammen mit einigen Gesinnungsgenossen um die
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