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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12
Autoren: Valentin Senger
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in Honig getauchten Schnuller in den Mund, der Beschneider trank mit Papa noch ein Glas Wein auf die Briss Mile - der Assistent trank nicht -, dann gingen sie ins Nebenzimmer und regelten das Geschäftliche, und bald verschwand der Mohel mit seinem Assistenten.
    Nachher kam Mama zu mir und sagte: »Hast du gesehen, Walja? Genau so war es auch bei dir.« Ich verspürte dabei ein komisches, unangenehmes Kribbeln im Bauch.
    Dann wurde die Beschneidung gefeiert mit vielen Schüsseln Gekochtem, einem großen Borschtsch, Fleisch und Fisch in Mengen und etlichen süßen Nachspeisen, alles war schon am Tag zuvor hergerichtet worden, mit Bergen von Kuchen und vielen Flaschen Wein. Der Samowar summte den ganzen Nachmittag und auch am Abend. Papa trank nicht viel Wein, aber an so einem Abend zehn bis fünfzehn Tassen Tee. Immer kamen noch neue Gäste, jeder mit einem kleinen Geschenk für Alex. So fröhlich und ausgelassen habe ich Mama und Papa selten gesehen. Papa bediente die Gäste, eine junge Frau half ihm dabei. Mama saß auf dem Diwan, trank koscheren Wein und politisierte mit den Gästen, denn es waren fast alles politische Freunde, die gekommen waren, die Briss Mile mitzufeiern. Zwischendurch erzählte Papa seine Geschichten.
    Als Paula und ich am späten Abend ins Bett mußten, war das Fest gerade auf seinem Höhepunkt angelangt. Man lachte, sang russische und jüdische Lieder und fand kein Ende, und wir beide konnten vor lauter Lärm lange nicht einschlafen.
     

Unsere Straße
    Ich hatte die Absicht und habe sie auch jetzt noch, die Geschichte unserer Familie und ihrer wundersamen Errettung zu erzählen, und ich merke, wie meine Gedanken immer weiter und weiter zurücklaufen und nicht bei der Jahreszahl 1933 stehenbleiben. Es ist, als hätte ich mit meiner Erinnerung ein schweres Schwungrad angeworfen, das, wenn es einmal in Gang gekommen ist, sich nicht mehr so schnell abbremsen läßt. Aber bedenke ich es recht, besteht auch kein Grund, es abzubremsen, vielleicht ist es sogar besser, wenn es sich weiterdreht. Denn vieles, was während der Hitlerzeit mit mir, meinen Eltern und Geschwistern geschah, ist schwer zu verstehen, wenn man nicht die Umstände kennt, unter denen wir damals lebten.
    Seit 1917 wohnten meine Eltern im Hinterhaus der Kaiserhofstraße 12, einer kleinen Straße zwischen Hauptwache und Opernplatz. Dort kam ich auch zur Welt. Die Kaiserhofstraße ging nur bis Nummer 20 und verband die Hochstraße mit der fast parallel verlaufenden Freßgasse, die in Wirklichkeit Große Bockenheimer Straße heißt, aber von jedermann nur Freßgasse genannt wird. Viele kennen ihren richtigen Namen gar nicht.
    Der vornehmste Frankfurter Delikatessenhändler, Rollenhagen, hatte in der Freßgasse sein Geschäft. Oft habe ich mir an seinen Schaufenstern die Nase plattgedrückt, um die wie phantastische Kunstwerke dekorierten Leckerbissen, die ich nicht mal dem Namen nach kannte, und im Ladeninnern die feinen Damen und Herren, die sich solche Genüsse leisten konnten, so lange anzustarren, bis mein Atem die Scheibe blind machte.
    Doch Rollenhagen war nur einer von vielen Läden, durch die diese Straße zur Freßgasse wurde. Da waren der Käs-Petri im Eckhaus der Kaiserhofstraße, der in seinem Schaufenster die in Hälften zerschnittenen Riesenräder von Schweizerkäse zu Pyramiden auftürmte; der Fisch-Kremser, dessen Schaufensterfront ein einziges großes Fischbassin war, in dem Fische aus allen Weltmeeren herumschwammen; der vornehme Pralinenladen von Wörner-Simmer, wo ich mir jedesmal, wenn ich vorbeiging, wünschte, einmal eine der köstlichen Pralinen aus der wundervoll drapierten Auslage zu bekommen; das Delikatessengeschäft Plöger, das damals viel kleiner als Rollenhagen war, aber noch heute existiert, während der große Rollenhagen bald nach dem Zweiten Weltkrieg schließen mußte, woraus man den Wahrheitsgehalt des alten Sprichworts erkennt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, auch dann nicht, wenn sie mit den köstlichsten Delikatessen aus aller Herren Länder behängt sind; ferner war da der Obst-Weinschrod, den ich nicht leiden konnte, weil ich dort immer »für zehn Pfennig angestoßenes Obst« holen mußte; aus dem gleichen Grund war mir auch der Metzger Emmerich verleidet, denn da gab es für mich selten etwas anderes zu kaufen als »für zwanzig Pfennig Wurststückchen«; ich erinnere mich auch noch sehr gut an die Bäckerei von Fritz Lochner, den heute weit über die Stadtgrenze hinaus
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