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Die Himmelsfestung

Die Himmelsfestung

Titel: Die Himmelsfestung
Autoren: Hubert Haensel
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1.
    Morgennebel lag wie ein dichter Schleier über dem Land und schluckte die Helligkeit des beginnenden Tages. Der Dunst barg düstere, knorrige Gestalten, Ungetümen gleich, die dem einsamen Wanderer auflauern.
    Aus der Ferne erklangen seltsam verzerrte Geräusche, das dumpfe Trommeln von Pferdehufen, das Klirren von Waffen. Zögernd sank der Nebel in dichten Schwaden tiefer, die selbst der aufkommende Wind nicht zu zerstreuen vermochte. Von einer Anhöhe aus gesehen, wirkte die Senke wie ein wogender, dampfender See, aus dem nur die höchsten und am weitesten verzweigten Wipfel uralter Baumriesen herausragten. Wind und Wetter hatten ihre Spuren im dichten Geäst hinterlassen; üppig wuchernde Flechten zogen den Lebenssaft aus dem morsch werdenden Holz. Diese Bäume waren geduldige Wächter.
    Aus dem Unterholz drang ein Rascheln und Raunen, ein Flüstern, Wispern, Schimpfen und Lachen. Ein dünnes Stimmchen übertönte alle anderen. Mal verstummte es, dann wieder erklang es doppelt so laut – jemand sang, doch die Melodie war schrill und abgehackt. Der Wind trug verwehende Bruchstücke des Liedes mit sich.
    Ein vier Fuß großes Männchen blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um. Der Nebel war so dick, daß weiter als fünfzehn Schritt entfernt stehende Bäume nur wie schwankende Schemen erschienen.
    Unwillig schüttelte der Schrat seinen großen Kopf und strich das hanfartige, strähnig bis auf die Schultern fallende Haar zurück. Seine Gesichtshaut war borkig und rissig wie Rinde und wirkte, als hätte sie weiße Patina angesetzt. Die in schwere, faltige Tränensäcke eingebetteten ockerfarbenen Augen blinzelten listig, und die große Nase sowie der breite, grinsende Mund verliehen dem Schrat einen verschmitzten Ausdruck. In einen Lumpenmantel gekleidet, einen breitkrempigen, ausgefransten Schlapphut auf dem Kopf, huschte er weiter. Er stützte sich dabei auf einen Stock, der ihn an Länge um den wulstigen Knauf überragte. Sein Blick war überall, nichts schien ihm zu entgehen. »Kräuterlein, zeigt euch«, murmelte er vor sich hin. »Ein Liebestrunk wird den beiden guttun.« Sein spöttisches Kichern schien nicht enden zu wollen.
    Ein schmaler, vielfach gewundener Bach durchzog den Wald. Das Wasser war kristallklar und ließ am Grund die glatt geschliffenen weißen Kiesel erkennen, zwischen denen sich Fische und fingerlange Krebse tummelten. Dort, wo der Schrat das Ufer erreichte, plätscherte das Wasser einen Abhang hinunter und staute sich zu einem ausgedehnten Weiher. Der Kleine kam gern hierher, wuchsen doch in der näheren Umgebung unzählige Heilpflanzen.
    »Hallo«, sagte er zu dem Bach, in dessen Wasser er sich verzerrt spiegelte. »Fryll ist wieder da, alter Freund.« Fische schwammen neugierig heran – es paßte ihm nicht, wie sie ihn anglotzten, und er stampfte unwillig auf. Blitzschnell stoben sie auseinander.
    Das lederne Beutelchen, das Fryll über der Schulter trug, war erst halb mit Kräutern gefüllt. Farne wucherten rund um das Gewässer, manche bis zu sieben Fuß hoch. Ein kunstvoll gewebtes, vom Tau glitzerndes Netz schwebte zwischen den Halmen. Der Schrat bemerkte es erst, als die klebrigen Fäden sein Gesicht berührten. Mit einem zornigen Ausruf wischte er sich die Überreste aus dem Gesicht. Die Spinne, so groß wie seine Faust, floh vor ihm. »Laß dich bloß nicht mehr blicken«, krächzte Fryll.
    Endlich fand er, wonach er suchte: zarte, blau blühende Pflänzchen, die er vorsichtig lockerte und mitsamt den Wurzeln aus der Erde zog. Erst nachdem er sie ausgiebig gesäubert hatte, verschwanden sie in seinem Beutel. Der Gedanke daran, welche Wirkung das Gebräu zeigen würde, ließ ihn erneut kichern. Doch schlagartig verstummte er und starrte auf seine Füße, als könne er nicht glauben, was er sah.
    »O nein«, kam es zögernd über seine rissigen Lippen. »Warum ausgerechnet mir?«
    Er stand auf dottergelben Blüten. Diese Blume war überaus selten und öffnete sich lediglich für wenige Stunden. Wer die Taubwurz auch nur berührte, hieß es, dem würde Unheil widerfahren.
    »Böses, weiche von mir!« stieß der Schrat hervor und hielt seinen Zauberstock mit überkreuzten Fingern von sich gestreckt.
    Der jäh auffrischende Wind wirbelte die Nebelschwaden durcheinander. Fryll fröstelte und zog seinen Mantel enger zusammen. Das aus nächster Nähe erklingende Wiehern eines Pferdes erschreckte ihn. Gleich darauf war Hufgetrappel zu vernehmen.
    Ihm stand der Sinn nicht nach einer
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