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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid
Autoren: Beryl Bainbridge
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    Am Vormittag dieses 18. Mai war Washington Harold Seite an Seite mit einer Meute, die Konservendosen, Stöcke und Steine in die Schaufenster warf, die Straße hinuntergeflohen. Er selbst hatte gar nichts damit zu tun, war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort; er hätte nicht hinter Artie Brunes Katze herlaufen sollen.
    Jetzt, um halb vier nachmittags, saß er im Führerhaus des Campingbusses, den er sich vor Kurzem gebraucht gekauft hatte, und wartete auf die Wheeler-Frau aus England. Kein Stäubchen auf dem Armaturenbrett, noch die letzte Schliere mit einem Lappen beseitigt, sogar hinter der Mini-Uhr mit dem Porträt von Abe Lincoln auf dem Zifferblatt war es sauber. Schade, dass durch den Regen wieder Schmutz auf den Lack spritzte; aber er hatte, bevor das Wetter schlecht wurde, eine Schutzpolitur aufgetragen, das müsste sich abwischen lassen. Das Wheeler-Mädchen würde es umhauen – der Kühlschrank, das Waschbecken mit fließendem Wasser, die flotten kleinen Vorhänge. Sie würden sich näher kennenlernen, und
bei Sonnenuntergang würde sie in ihrem gepunkteten Kleid den Salat anmachen, während er die Drinks mixte und das Feuer anzündete; später, wenn es dunkel war, würde er mit spitzem Finger zum Himmel zeigen und die Sterne benennen.
    Falls sie wirklich gut miteinander auskamen, konnte er sie sogar hinsichtlich Wheeler ins Vertrauen ziehen. Natürlich nicht uneingeschränkt. So wie er sie in Erinnerung hatte, würde sie wohl kaum begreifen, was er vorhatte. Sie war zwar nicht dumm, aber alles andere als gebildet. Manche Themen, ganz alltägliche wie das Funktionieren der Wall Street oder die Ziele politischer Gruppen, waren ihr fremd; umso rätselhafter, dass Wheeler an ihr Gefallen gefunden hatte. Aber Wheeler war schließlich ein Frauenheld, während er, Harold Grasse, als schüchtern galt. Ein schüchterner Junge und unnahbarer Erwachsener. Nein, das nicht, eher vorsichtig, wählerisch.
    Er versuchte sich so weit zurückzulehnen, dass sein ganzes Gesicht in den ovalen Spiegel passte, aber er sah nur seine Stirn, schon ziemlich kahl und noch braun vom Urlaub in Florida. Ein Hauch von Willie Shakespeare, diese Stirn, gewölbt, intelligent, obwohl seine Noten im College zugegebenermaßen nicht gerade großartig gewesen waren.
    Er spähte durch den strömenden Regen, der die Flughafengebäude und das Betonviereck des Parkplatzes auslöschte. Weiter landeinwärts in Maryland würde es bestimmt besser werden. Er würde seine
Shorts anziehen, und vielleicht legte sie ihm dann die Hand aufs Bein und streichelte seine Haut. Nach dem Ton zu schließen, den sie in ihren Briefen angeschlagen hatte, war sie ein verdammt nettes Mädchen, wenn auch ein bisschen hysterisch. Als er sie damals in England heimbegleitet hatte, hatte sie unter dem Vorwand, es sei eine gefährliche Straße, nach seiner Hand gegriffen. Unter den Laternen könne der Tod jederzeit zuschlagen, erklärte sie.
    Er glättete das zerknitterte Papier auf seinem Schoß und las noch einmal den Brief der Frau, auf die er wartete.
     
    Lieber Harold,
     
    sehr in Eile, hab das Gefühl, dass ich das nicht tun sollte. Die Leute waren so nett, du machst dir keinen Begriff. Meine Freundin im Zimmer unten hat mir eine Hose geliehen und Polly zwei Pullis und einen Rock. Ist das nicht lieb? Auserdem hab ich meine Coop-Dividende kassiert, 6 Pfund und 15 Shilling insgesamt, davon habe ich mir Sonnenöl und ein gepunktetes Kleid kaufen können. Das Kleid ist ein Luxus, aber das Öl nicht, weil ich eine sehr empfindliche Haut habe, weil meine Mutter in der Schwangerschaft perniziöse Anämie hatte und mit Gold behandelt wurde, was man heute nicht mehr macht, weil es gefährlich sein soll. Jeden Tag kam eine Gemeindeschwester vorbei und gab ihr eine Spritze, wie man sie
normalerweise kranken Pferden gibt. Wegen dem Geld – ich habe nur so viel zusammenkratzen können, was ungefähr 47 Dollar wert ist. Besser ich sag dir das im Voraus, weil es mir so peinlich ist, dass mein Beitrag so kläglich ist, verglichen mit deiner Großzügigkeit. Polly hätte mir Geld gegeben, aber ich wollte nicht fragen. Unsere Briefe werden sich wahrscheinlich kreuzen – ob du wohl schon etwas über den Aufenthaltsort von Dr. Wheeler erfahren hast? Das Ganze ist sehr aufregend, und ich werde das Gefühl nicht los, das uns das Schicksal zusammengeführt hat. Vielleicht ist Dr. Wheeler tot … Ich bin darauf gefasst. Irgendwo hab ich gelesen, dass man das Leben als einen
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