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Gabe der Jungfrau

Gabe der Jungfrau

Titel: Gabe der Jungfrau
Autoren: D Zinßmeister
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Prolog
    Frankenhausen 1525
    Unaufhaltsam liefen dem jungen Mann Tränen über die Wangen, und wie den Regen spürte er sie nicht.
    Keuchend saß er inmitten eines Waldstücks an einen Baumstamm gelehnt und presste den erstarrten Körper an sich. Der Halbmond erhellte den Nachthimmel, sodass er das Gesicht des Toten klar erkennen konnte.
    Fast lautlos flüsterte er den Namen des toten Mannes und wischte mit seinen schmutzigen Fingern die Schlammkruste aus dessen Gesicht. Er verrieb den Moder auf der Haut, bis die Stirn des Toten fast sauber war. Dann drückte er seine Lippen darauf.
    Weder die fahle Haut noch der Geruch störten ihn, denn es war sein Bruder, den er wie ein Kleinkind in den armen hielt. Wieder berührte sein Mund die Stirn des Toten – ein letzter Kuss von Bruder zu Bruder.
     
    Mit letzter Kraft und unter großer anstrengung hatte er ihn seinem nassen Grab entrissen – ihn mit seinen eigenen Händen aus dem Erdboden geholt.
    Der junge Mann spürte weder die Verletzungen, die er sich dabei zugezogen hatte, noch das Brennen der feinen Wunden auf den Fingerkuppen, wo er sich beim Graben die Haut abgerieben hatte. auch den pochenden Schmerz, den seine tief eingerissenen Fingernägel verursachten, beachtete er nicht.
    Für ihn zählte nur, dass sein Bruder nicht mehr in fremder
Erde lag. Jetzt war es an der Zeit, dessen letzten Wunsch zu erfüllen und ihn heimzubringen.
     
    Gegenseitig hatten sie sich dieses Versprechen gegeben – damals, bevor sie in diesen verdammten Krieg gezogen waren, weil der Vater es von ihnen verlangt hatte.
    »Bist du nun zufrieden, Vater?«, hätte er am liebsten in die Nacht hinausgeschrien. Doch er blieb stumm. Stattdessen fuhr er sich mit der Hand über die augen und wischte die Tränen und die Erinnerung fort.
    Die Zeit drängte. Es war bereits kurz nach Mitternacht, und er hatte noch viel zu tun.
     
    Behutsam legte er den Leichnam seines Bruders auf den nassen Boden, stand auf und lockerte die steifen Glieder. Nun spürte er den Schmerz, doch er schenkte ihm keine Beachtung, sondern fasste den Toten unter den armen, um ihn tiefer in den Wald zu ziehen. Erschrocken stellte er fest, dass dabei die Fersen der Leiche verräterische Spuren im aufgeweichten Boden hinterließen. Doch dann sah er, wie der Regen Tannennadeln und Laub über die Vertiefungen spülte und sie wieder verwischte.
    ›Als ob die Natur meinen Plan gutheißen würde‹, dachte er und zog seinen Bruder weiter ins dichte Gehölz. Dann hatte er einen geeigneten Platz für sein Vorhaben gefunden.
    Vom Schweiß der anstrengung und vom Regen durchnässt, bettete er den Toten behutsam zwischen zwei Bäume und sah sich um. Zufrieden nickte er und flüsterte kaum hörbar: »Hier soll es sein! Hier werde ich mein Versprechen einlösen.«

Erster Teil

Kapitel 1
    Mehlbach, ein kleiner Ort in der Kurpfalz, 1525
    Die Luft war eisig und brannte doch wie Feuer in der Lunge der jungen Frau. Das flachsblonde Haar fiel strähnig und feucht auf ihre schmalen Schultern. Scheu schaute sie sich um.
    Rauchschwaden hingen wie Nebel über der schneebedeckten Ebene, deren Erde wie mit Blut getränkt schien. aufgespießte und zerstückelte Leiber von Toten, die ihr Leben auf dem Schlachtfeld ausgehaucht hatten, lagen zu Tausenden im Tal. Verwundete wanden sich schreiend in ihren Schmerzen.
    Als die junge Frau eine Bewegung wahrnahm, wandte sie den Kopf zur Seite. Sie sah einen Reiter, der sein Schwert wie zum angriff über dem Kopf schwang und auf die verwundeten Männer zugaloppierte. Mit gezielten Hieben tötete er die am Boden liegenden Verletzten.
    Verzerrt drangen die Schreie der Männer zu ihr herüber, berührten sie jedoch nicht. Gleichgültig wandte sie ihre aufmerksamkeit von dem Reiter ab und ließ den Blick über das Schlachtfeld schweifen.
    Die junge Frau wusste nicht, wie sie an diesen Ort gekommen war und was sie hier sollte – zumal sie die einzig Unbeteiligte zu sein schien.
    Als sie weitergehen wollte, glaubte sie auf der Stelle zu treten. Ihre Beine fühlten sich an, als ob sie durch Pfützen aus Blut, das ihr bis zu den Knien spritzte, watete. Sonderbarerweise schien es sie aber nicht zu stören. auch dass Blut ihr weißes Gewand rot verfärbte, berührte sie nicht. Nur die vielen Toten um sie
herum waren ihr unheimlich. Plötzlich stand sie dicht vor einem Totem. Er lag auf dem Bauch, und sie konnte sein Gesicht nicht erkennen.
    Ihr Herz raste vor angst, dass der Tote kein Unbekannter sein könnte. Zögerlich
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