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Maigret verteidigt sich

Maigret verteidigt sich

Titel: Maigret verteidigt sich
Autoren: Georges Simenon
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    Erstes Kapitel
     
     
     
    »Sagen Sie mal, Maigret…«
    Der Anfang eines Satzes, an den sich der Kommissar später erinnern sollte, der ihm in dem Augenblick aber gar nicht aufgefallen war. Alles war ihm vertraut: die Einrichtung, die Gesichter und sogar die Bewegungen der Menschen, so vertraut, daß er gar nicht mehr darauf achtete. Sie waren in der Rue Popincourt, wenige hundert Meter vom Boulevard Richard-Lenoir entfernt, bei den Pardons, bei denen die Maigrets seit mehreren Jahren jeden Monat einmal zu Abend aßen.
    Und ebenso kamen der Arzt und seine Frau einmal monatlich zum Essen zu ihnen. Für die beiden Frauen war das eine Gelegenheit, mit den Kochkünsten zu wetteifern.
    Wie immer hatte man lange bei Tisch gesessen. Die Tochter der Pardons, die zum zweitenmal schwanger war, wirkte wie ausgestopft und schien sich zu entschuldigen, daß sie so wenig anmutig aussah. Sie war für einige Tage bei ihren Eltern, während ihr Mann, ein Ingenieur in einem Vorort, an einem Kongreß in Nizza teilnahm.
    Es war Juni. Der Tag war drückend heiß gewesen. Am Abend braute sich ein Gewitter zusammen. Durch das offene Fenster sah man bisweilen den Mond zwischen zwei schwarzen Wolken, deren Ränder sein Schein einen Augenblick weiß aufleuchten ließ.
    Nach alter Tradition hatten die Damen den Kaffee serviert und saßen jetzt am anderen Ende des Salons, wo sie halblaut sprachen, während die beiden Männer sich allein unterhielten. Es war das Wartezimmer des Arztes. Auf einem Tischchen lagen abgegriffene Zeitschriften. Eine Kleinigkeit war übrigens anders als sonst. Während Maigret seine Pfeife stopfte und anzündete, war Pardon in seinem Sprechzimmer verschwunden und mit einer Zigarrenkiste von dort zurückgekommen.
    »Ich biete Ihnen keine an, Maigret.«
    »Danke. Rauchen Sie jetzt Zigarren?«
    Er hatte den Arzt immer nur mit Zigaretten gesehen. Nach einem kurzen Blick zu seiner Frau hin hatte Pardon gemurmelt:
    »Sie hat mich darum gebeten.«
    »Wegen der Artikel über den Lungenkrebs?«
    »Sie ist ziemlich beeindruckt.«
    »Glauben Sie daran?«
    Pardon hatte mit den Schultern gezuckt.
    »Selbst wenn ich daran glaubte…«
    Leise hatte er hinzugefügt:
    »Ich muß Ihnen gestehen, wenn ich unterwegs bin…«
    Er mogelte. Zu Hause zwang er sich, Zigarren zu rauchen, was gar nicht zu ihm paßte. Aber woanders rauchte er heimlich wie ein Gymnasiast Zigaretten.
    Er war weder groß noch fett. Sein braunes Haar begann zu ergrauen. Man sah seinem Gesicht an, daß er kein leichtes Leben hatte. Selten endete der Abend, ohne daß er einen Kranken besuchen und seine Gäste verlassen mußte.
    »Sagen Sie mal, Maigret…«
    Er hatte das zögernd gesagt, mit einer gewissen Scheu.
    »Wir müssen doch ungefähr gleichaltrig sein.«
    »Ich bin zweiundfünfzig.«
    Der Arzt wußte es, denn er behandelte den Kommissar und hatte eine Karteikarte von ihm angelegt.
    »In drei Jahren werde ich pensioniert. Bei der Polizei schickt man uns mit fünfundfünfzig angeln.«
    Eine leise Melancholie. Die beiden Männer am Fenster spürten manchmal einen frischen Luftzug und sahen am Himmel einen Blitz, dem aber kein Donner folgte. In den Häusern gegenüber waren einige Fenster erleuchtet. Hinter den Vorhängen bewegten sich Gestalten. Ein alter Mann lehnte in einem dunklen Zimmer an der Fensterbank und schien sie zu beobachten.
    »Ich bin neunundvierzig. Auf dem Gymnasium zählen drei Jahre Altersunterschied. Aber in unserem Alter nicht mehr.«
    Maigret sah nicht voraus, daß ihm die Einzelheiten dieses sich so träge dahinschleppenden Gesprächs eines Tages wieder einfallen würden. Er schätzte Pardon sehr. Er war einer der wenigen Männer, mit denen er gern den Abend verbrachte.
    Der Arzt fuhr fort, wobei er immer noch nach Worten suchte: »Wir haben beide ein wenig die gleiche Erfahrung mit Menschen. Viele meiner Patienten könnten Ihre Klienten werden.«
    Das stimmte, denn in dem übervölkerten Viertel begegnete man Menschen aller Sorten, der besten und der schlimmsten.
    »Ich möchte Ihnen eine Frage stellen.«
    Er war sichtlich verlegen. Sie waren zwar Freunde, so wie auch ihre Frauen Freundinnen waren, aber sie scheuten sich dennoch, gewisse Themen zu berühren. So hatten sie noch nie über Politik oder Religion gesprochen.
    »In Ihrer ganzen Laufbahn«, sagte Pardon, »sind Sie nie einem wirklich bösen Verbrecher begegnet. Ich meine…«
    Er suchte weiter nach Worten, versuchte sich klar auszudrücken.
    »Ich meine natürlich den
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