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Maigret verteidigt sich

Maigret verteidigt sich

Titel: Maigret verteidigt sich
Autoren: Georges Simenon
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Verbrecher, der für seine Taten verantwortlich ist, der aus purer Bosheit handelt, aus Lasterhaftigkeit, wie manche sagen würden. Ich spreche nicht von den Kinderschindern, etwa von diesen Kerlen, die geistig zurückgeblieben sind und sich in der Welt der Erwachsenen nicht zurechtfinden und saufen.«
    »Sie meinen also den reinen Verbrecher?«
    »Den reinen, oder sagen wir, den geborenen Verbrecher.«
    »Nach dem Strafgesetzbuch?«
    »Nein. So wie Sie ihn sehen.«
    Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Maigret seinen Freund durch den Rauch seiner Pfeife. Sein Blick fiel vor allem auf die Zigarre, die Pardon unbeholfen hielt und deren Asche gleich auf den Teppich fallen würde. Er lächelte schließlich, und der Arzt starrte verlegen auf den braunen Stengel.
    Sie verstanden sich. Es war diese Zigarren- und Zigaretten-Geschichte, die den Arzt der kleinen Leute geplagt und ihn vielleicht unbewußt dazu getrieben hatte, die Frage zu stellen.
    Er war neunundvierzig, wie er eben gesagt hatte. Jeden Tag seit mehr als zwanzig Jahren beugte er sich über Dutzende von Kranken, die in ihm so etwas wie den lieben Gott sahen und die von ihm alles erwarteten – die Gesundheit, das Leben, einen Rat, die Lösung ihrer Probleme.
    Er hatte Männer, Frauen, Kinder gerettet. Er hatte anderen geholfen, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Jeden Tag mußte er in wenigen Minuten Entscheidungen treffen, die unwiderruflicher waren als die der Richter.
    Wegen einiger Zeitungsartikel hatte seine Frau ihn gebeten, das Zigarettenrauchen einzustellen, und er hatte nicht den Mut gehabt, sie zu beunruhigen, indem er sich weigerte, es zu tun. Zu Hause zwang er sich darum, ungeschickt an einer Zigarre zu ziehen, die ihm gewiß schlecht schmeckte.
    Aber kaum war er draußen, steckte er sich am Steuer seines Wagens, der ihn zu einem Kranken brachte, mit vor Gewissensbissen zitternder Hand eine Zigarette an.
    Maigret beantwortete nicht sofort die Frage, die sein Freund ihm gestellt hatte. Fast hätte er erwidert:
    »Und Sie?«
    Aber das war zu leicht.
    »Wenn das Unglück es gewollt hätte, daß ich hätte Richter werden müssen«, begann er mit zögernder Stimme, »oder wenn ich einmal Geschworener in einem Schwurgerichtsprozeß hätte sein müssen, dann weiß ich nicht, ob… Nein! Ich bin sicher, ich würde es nicht auf mich nehmen, einen Menschen zu verurteilen.«
    »Egal bei welchem Verbrechen?«
    »Nicht das Verbrechen zählt. Es kommt darauf an, was bei dem, der es begangen hat, vorgeht oder vorgegangen ist.«
    »Sie haben also noch keinen Fall erlebt, in dem Sie ohne Zögern den Täter verurteilt hätten?«
    »Ein Verbrechen aus Bosheit, wie Sie es genannt haben? Auf den ersten Blick, ja. Ich habe in meinem Büro Leute gehabt, die ich einfach ohrfeigen mußte. Aber je weiter ich mit meinen Ermittlungen kam…«
    An diesem Punkt hatte das Gespräch aufgehört, denn eine der Frauen – Maigret wußte nicht mehr welche – war zu ihnen gekommen.
    »Einen Armagnac?«
    Pardon warf Maigret einen kurzen Blick zu.
    »Nein. Danke.«
    »Übrigens, wann habe ich Sie zum letztenmal untersucht?«
    »Vor etwa einem Jahr.«
    Es donnerte draußen laut, aber der Regen, auf den man schon seit Tagen wartete, fiel immer noch nicht.
    »Wie wäre es, wenn wir einen Augenblick in mein Sprechzimmer gingen?«
    Das älteste Enkelkind der Pardons schlief dort auf einem Klappbett.
    »Seien Sie beruhigt. Es hat einen tiefen Schlaf. Leider nur bis fünf Uhr morgens. Wir wollen mal Ihren Blutdruck messen.«
    Maigret zog seine Jacke aus und entblößte dann seinen Oberkörper. Pardon hatte unwillkürlich die ernste und ein wenig abwesende Miene des Arztes aufgesetzt.
    »Atmen Sie! Tiefer. Atmen Sie durch den Mund ein. Gut. Legen Sie sich hierhin und öffnen Sie Ihren Gürtel. Sie haben wohl nicht meinen Rat befolgt und weniger, ich meine langsamer gearbeitet?«
    »Und Sie?«
    »Ich weiß, ich weiß. Und wie ist es mit der Diät?«
    Maigret schüttelte den Kopf.
    »Wein, Bier, Schnaps? Trinken Sie etwas weniger?«
    »Ich bin nur zu einer Erkenntnis gekommen: mich zu schämen, wenn ich ein Glas Bier oder Calvados trinke. Zwischen zwei Untersuchungen trinke ich tagelang nur ein wenig Wein zum Essen. Dann gehe ich in ein Café, um das Haus gegenüber zu beobachten. Ich atme den säuerlichen Geruch der Pariser Bistros und…« Wie Pardon mit seinen Zigaretten. Dennoch waren beide Männer!
     
     
    Die Maigrets waren wie immer durch die Rue du Chemin-Vert zu Fuß nach Hause
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