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Maigret verteidigt sich

Maigret verteidigt sich

Titel: Maigret verteidigt sich
Autoren: Georges Simenon
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wie man sagt, die jedes Jahr…?«
    »Ich lese die Statistiken.«
    »Ich gebe zu, daß ihre Geschichte nicht neu war. Und wann sie ungewöhnlicher gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht nicht für sie interessiert. Sie war von zu Hause weggefahren, ohne ihren Eltern etwas zu sagen. Sie hatte einen Koffer mit Kleidern und persönlichen Gegenständen sowie ihre Ersparnisse mitgenommen. Ihre Freundin holte sie an der Gare Montparnasse ab. Diese Freundin war nicht allein. Ein Mann von etwa dreißig Jahren begleitete sie, den sie als ihren Verlobten vorstellte.«
    »Ein brünetter Mann, wie bei den Kartenlegerinnen?«
    »Sie sind in einen roten Lancia gestiegen, und zehn Minuten später haben sie vor einem Hotel gehalten.«
    »Wissen Sie, vor welchem Hotel?«
    »Nein.«
    »Wohl auch nicht, in welchem Viertel es liegt?«
    »Nein, Herr Präfekt. Aber ich habe in meiner Laufbahn merkwürdigere Geschichten erlebt, die trotzdem wahr waren. Dieses junge Mädchen kannte Paris nicht. Sie kam zum erstenmal her. Eine Jugendfreundin erwartete sie und stellte ihr ihren Verlobten vor. Man fuhr mit ihr im Auto durch die Straßen und Boulevards, die sie noch nie gesehen hatte. Man hielt schließlich vor einem Hotel, das drittrangig zu sein schien, wo sie ihr Gepäck ließ. Dann ging man mit ihr zum Essen. Man gab ihr zu trinken…«
    Maigret erinnerte sich an die rührende Stimme am Telefon, an die schlichten, aber ehrlichen Worte – Sätze, die man seiner Meinung nach nicht erfinden konnte.
    »Ich bin freilich noch ein wenig betrunken«, gestand sie. »Ich weiß nicht einmal, was ich getrunken habe.
    ›Komm doch in meine Wohnung‹, hat meine Freundin gesagt.
    Und die beiden haben mich in eine Art modernes Studio geführt. Ich erschrak vor den Bildern und vor allem vor den Fotos, die die Wände schmückten. Meine Freundin lachte.
    ›Hast du davor Angst? Zeig ihr doch, Marco, daß es gar nicht so furchtbar ist…‹«
    »Wenn ich recht verstehe, hat sie Ihnen das am Telefon erzählt, und Sie hörten es sich im Bett neben Ihrer Frau an.«
    »Das stimmt, allerdings hat sie mir einige Einzelheiten erst später berichtet.«
    »Es gab also ein Später?«
    »Es kam der Augenblick, daß sie es vorgezogen hat, zu flüchten. Sie stand plötzlich allein in Paris, ohne ihr Gepäck, ohne ihre Handtasche und ohne ihr Geld.«
    »Und da ist ihr der Gedanke gekommen, Sie anzurufen? Offenbar kannte sie Ihren Namen aus den Zeitungen. Sie hatte ihre Handtasche nicht bei sich, aber sie hat trotzdem das Geld gefunden, um Sie aus einer öffentlichen Zelle anzurufen.«
    »Aus einem Lokal, in dem sie sich etwas bestellt und eine Telefonmünze verlangt hat. Die Wirte lassen sich gewöhnlich nicht im voraus bezahlen.«
    »Sie sind ihr also zur Hilfe geeilt. Warum haben Sie nicht das Kommissariat des Viertels beauftragt, ihr aus der Klemme zu helfen?«
    Maigret hatte irgendeine dunkle Ahnung gehabt, aber er war entschlossen, nicht darüber zu sprechen. Er wollte übrigens von jetzt an so wenig wie möglich sagen.
    »Hören Sie, Herr Kommissar, das betreffende Mädchen ist keineswegs eine kleine Provinzlerin, und die Version, die sie von den Ereignissen gibt, ist völlig anders als die Ihre. Monsieur Jean-Baptiste Prieur hat sich heute morgen beunruhigt, als seine Nichte nicht zum Frühstück erschien und er erfuhr, daß sie auch nicht in ihrem Zimmer war.
    Sie ist völlig mitgenommen und verstört um halb neun morgens zurückgekommen. Ihr Bericht hat den Onkel so erregt, daß er den Innenminister angerufen hat. Nachdem dieser mich davon in Kenntnis gesetzt hatte, habe ich einen Stenographen hingeschickt, damit er die Aussage Mademoiselle Prieurs zu Protokoll nahm. In drei Jahren werden Sie pensioniert, Monsieur Maigret…« Pardons Worte fielen ihm wieder ein.
    »Sagen Sie… sind Sie in Ihrer Laufbahn…?«
    Der reinen Bosheit begegnet! Des Bösen um des Bösen willen! Des in vollem Bewußtsein vollbrachten Bösen!
    Aber wer?
    »Was erwarten Sie von mir, Herr Präfekt? Ein Entlassungsgesuch?«
    »Ich würde es annehmen müssen.«
    »Wer hindert Sie daran?«
    »Sie werden die Aussage lesen, die inzwischen getippt worden ist, und mir schriftlich bis in alle Details Ihre Version der Ereignisse wiederholen. Ich verbiete Ihnen natürlich, Mademoiselle Prieur zu belästigen und, wen immer auch, über sie zu vernehmen. Ich werde Sie wieder zu mir rufen lassen, wenn ich Ihre schriftliche Aussage erhalten habe.«
    Er ging zur Tür und öffnete sie, immer noch ein
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