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Maigret verteidigt sich

Maigret verteidigt sich

Titel: Maigret verteidigt sich
Autoren: Georges Simenon
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Ich habe nicht das Recht, in die Rue des Acacias zu gehen, wo die Polizei mich daran hindern würde, das Haus zu betreten. Außerdem, wenn ich dorthin ginge, wäre es nicht ausgeschlossen, daß Mélan sich eine Kugel in den Kopf schießt. Besitzt er eine Waffe?«
    »Ja, einen alten Armeerevolver.«
    »Sie werden ihn anrufen und ihm sagen, Sie hätten ihm etwas Ernstes und Dringendes mitzuteilen, was Sie ihm aber telefonisch nicht sagen könnten. Sie werden ihn bitten, herzukommen. Er hat ja gewiß einen Wagen. Er hat Vertrauen zu Ihnen…«
    »Und wenn er seinen Revolver mitbringt?«
    »Das wird er nicht tun, wenn er zu Ihnen kommt.«
    »So wird ihm niemand mehr bleiben, nicht einmal ich.«
    »Denken Sie an die Frau oder die Frauen, deren Reste man wahrscheinlich in dem Garten finden wird.«
    »Ich verstehe. Trotzdem ist es schrecklich… Warum muß gerade ich es sein? Wenn Sie Katholik sind, erinnert Sie das an etwas, nicht wahr?«
    Und da er den Kopf schüttelte, sagte sie:
    »Judas!«
    Langsam ging sie zum Telefon. Mit ihren dürren Fingern drehte sie die Scheibe. Die roten Flecke auf ihrem Gesicht waren verschwunden, und sie hatte die Augen halb geschlossen.
    »Sind Sie es, Herr Doktor? Hier Motte…«
    Nachdem sie eingehängt hatte, sagte sie kein Wort mehr. Maigret auch nicht. Sie saßen einander gegenüber, ohne sich anzublicken, und warteten. Zweimal steckte der Kommissar seine Pfeife wieder an, denn er hatte vergessen, an ihr zu ziehen.
    Beide mußten sich zusammenreißen, um nicht im Zimmer auf und ab zu gehen.
    Hin und wieder sah Maigret auf seine Uhr. Mademoiselle Motte blickte über seinen Kopf hinweg auf die Pendeluhr, deren Ticken er hörte. Die Zeit schien dahinzukriechen. Würde Mélan kommen? Wenn er gemerkt hatte, daß für ihn alles aus war, hatte er sich vielleicht schon eine Kugel in den Kopf geschossen. Aber Carola hätte das zweifellos gehört und sofort Mademoiselle Motte angerufen, ehe sie die Polizei benachrichtigte, die sie nicht zu lieben schien.
    Carola war vielleicht im Kino. Und wenn Nicole Prieur heute abend… Mademoiselle Motte stellte sich mehr oder weniger die gleichen Fragen. Durch das halbgeöffnete Fenster hallten die wenigen Straßengeräusche herein. Ein Auto fuhr vorüber, jemand ging über den Gehsteig, manchmal auch ein Paar, dessen Stimmen man hörte…
    Es schien eine Ewigkeit zu sein, obwohl in Wirklichkeit nur etwa zwanzig Minuten vergingen, in denen sie schwiegen und reglos dasaßen.
    Dann plötzlich hielt ein Wagen vor dem Haus. Ein leichtes Knirschen von Bremsen. Schritte auf dem Gehsteig und dann ein fernes, gedämpftes Klingeln. Die kleine Tür schloß sich wieder in der großen. Schritte auf dem ungleichmäßigen Pflaster des Hofes, die Glastür, die sich öffnete, die Treppe…
    Mademoiselle Motte legte die Hand auf ihre Brust und stammelte wie zu sich selbst:
    »Ich kann nicht…«
    Als er sah, wie sie sich erhob, glaubte er, sie würde in die Küche stürzen, sich verstecken, vielleicht über eine andere Treppe flüchten. Aber sie rührte sich nicht, und er stand ebenfalls auf. Ihm war ebenso unheimlich zumute wie ihr.
    Es herrschte eine solche Stille, daß man das leise Klicken der Treppenbeleuchtung im Flur vernahm. Das Licht war gerade ausgegangen. Eine Hand tastete nach der Tür, und Mademoiselle Motte ging auf sie zu und öffnete sie.
    Mélan trug einen grauen Anzug und hielt seinen Hut in der Hand. Er trat einen Meter näher, drehte sich um, ohne Maigret gesehen zu haben, starrte Mademoiselle Motte an, öffnete den Mund, und dann drehte er sich wieder um und sah den Kommissar. Er sagte zunächst kein Wort. Er versuchte auch nicht, davonzulaufen. Trotz seiner Überraschung und Erregung spürte man, daß er sich bemühte, das Ganze zu verstehen.
    Das Problem mußte ihm schwer lösbar erscheinen. Kurz darauf schüttelte er den Kopf, als hätte er eine Gleichung auf der schwarzen Tafel ausgewischt, um wieder von vorn zu beginnen. Jetzt blickte er mit gerunzelter Stirn einen nach dem anderen an, dann starrte er auf die Sessel, in denen sie vorher gesessen hatten, und auf die Pfeife im Aschenbecher.
    »Sind Sie schon lange hier?« fragte er schließlich mit fast ruhiger Stimme.
    »Ziemlich lange.«
    Seine blauen Augen ruhten auf dem traurigen Gesicht seiner Assistentin. Weder Zorn noch Empörung spiegelte sich in ihnen. Überraschung gewiß, aber vor allem eine Frage… eine Frage… eine Frage… Er wollte verstehen… Er wollte verstehen… Er besaß eine
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