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Die erste Todsuende

Die erste Todsuende

Titel: Die erste Todsuende
Autoren: Lawrence Sanders
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    Ringsumher herrschte Stille. Er lag rücklings auf dem Teufelszahn genannten Felspfeiler und meinte, völlig frei in der Luft zu schweben. Über ihm, rings um ihn dehnte sich ein dünnes, durchsichtiges Blau, hinter dem er Wolkenfetzen und eine zitronengelbe Sonne gewahrte.
    Er hörte nichts außer dem eigenen kräftigen Herzschlag und seinem nach dem Aufstieg allmählich wieder ruhiger gehenden Atem. Er konnte sich einbilden, ganz allein im All zu sein.
    Endlich stand er auf und blickte um sich. Wogendes Laub umbrandete den Fuß des Felspfeilers, ein dunkelgrünes Meer mit Schaumtupfern von herbstlichem Rostbraun. Er sah die Schnellstraße und die Dächer von Chilton, das Stahlband des Stromes, der sich nach Süden wälzte, dem Meer zu.
    Behutsam trat er an den Rand des Felskammes und zog das Nylonseil herauf, das mit einem Karabinerhaken an seinem Gürtel festgeklinkt war. Daran hing der Rucksack mit den belegten Broten, der Thermosflasche, dem Verbandszeug, mit Steigeisen für seine Kletterschuhe, Mauerhaken, einem Extrapullover und -außen dran - dem Eispickel.
    Die Brote (biologisch-dynamisches Weizenmehl aus dem Reformhaus) hatte er eigenhändig mit Zwiebelringen, mit Rettich- und Tomatenscheiben belegt.
    Er ließ sich auf dem glatten Granit nieder und aß langsam. Der Kaffee war noch warm, das Brot mit der knusprigen Kruste frisch. Ein Häher grüßte ihn mit seinem Pfiff, ging auf dem Fels nieder und beäugte ihn ohne Furcht. Er lachte und warf ihm ein Stück Kruste hin; der Vogel schnappte danach, ließ es aber gleich wieder fallen. Er flog auf und war nur noch ein blauer Blitz.
    Butterbrotpapier und Thermosflasche verschwanden im Rucksack. Er legte sich hin und benutzte den Rucksack als Kopfkissen, drehte sich auf die Seite und zog die Knie an. Er nahm sich vor, in einer halben Stunde aufzuwachen, schlief fast augenblicklich ein und träumte von einer Frau, die so unbehaart war wie seine Handfläche.
    Nach einer halben Stunde erwachte er und brannte eine Zigarette an. Der Tag rückte weiter vor; vor der Dämmerung mußte er den Nationalpark verlassen. Immerhin blieb noch Zeit zu rauchen, zu schweigen und einen letzten Schluck Kaffee zu trinken, der nun allerdings kalt war und zwischen seinen Zähnen knirschte.
    Er war seit kurzem geschieden, doch das war bedeutungslos - war einem Fremden passiert. Frappieren jedoch tat ihn, was mit ihm vorging, seit Gilda und er sich getrennt hatten. Es war wie ein Puzzle-Spiel, von dem ihm freilich einige Teilchen fehlten; er hatte keine Ahnung, wie das fertige Bild aussehen würde.
    Er streifte die Strickmütze ab und bot den rasierten Schädel einem wässerigen Sonnenlicht dar und betastete forschend die glatte Haut über dem harten Schädelknochen.
    Zwar war die Scheidung erst vor kurzem (in Mexiko) ausgesprochen worden, doch lebte er von seiner Frau bereits seit über zwei Jahren getrennt. Kurz nachdem sie übereingekommen waren, jeder seiner Wege zu gehen, hatte er den Kopf vollständig rasiert und zwei Perücken angeschafft. Die eine („Ivy League") trug er im Büro und bei formellen Anlässen, die andere („Via Veneto") mit dem gewellten Haar und den langen Locken auf Parties oder wenn er zu Hause Gäste empfing. Beide Perücken waren dunkelbraun wie sein eigenes Haar.
    Es stimmte, daß sein Haar sich zu lichten begann, als er vierundzwanzig war, und als er sich mit dreiunddreißig von Gilda trennte, war der Haaransatz in weiten 'Geheimratsecken' zurückgewichen; am Hinterkopf gab es eine kleine kahle Stelle, doch konnte von einer Glatze nicht die Rede sein. Das Haar, das ihm noch verblieb, hatte Glanz und war kräftig.
    Trotzdem hatte er sich den Schädel kahlrasiert, als er die Perücken kaufte, obwohl der Friseur ihm versicherte, das sei nicht nötig, und die künstlichen Haarteile paßten sich („Garantiert nicht zu erkennen, Sir!") seinem natürlichen Haar an.
    Wenn er kletterte, schwamm oder auch nur allein in seiner Wohnung war, zog er es vor, ohne Perücke herumzulaufen. Er hatte es sich angewöhnt - und das war jetzt fast ein nervöserTick - ,mit den Fingerspitzen über den kahlen Schädel hinzufahren und die zarte Hirnschale sowie die gefährliche Masse, die darunter lag, abzutasten.
    Er setzte die Mütze auf, zog sie über die Ohren und bereitete sich auf den Abstieg vor, indem er die Roßlederhandschuhe mit der rauhen Seite nach außen überstreifte. Dann ließ er den Rucksack bis zum Fuß des Felsens hinab. Das Seilende war mittels Karabinerhaken
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