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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau
Autoren: B Akunin
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|5| ERSTES KAPITEL
    1.
Aus Zeitungen
    DIE AUFOPFERUNG DES VIERBEINIGEN FREUNDES
    Gestern gegen drei Uhr nachts wurden die Bewohner eines Mietshauses der Gesellschaft »Goliath« in der Semjonowskaja-Straße vom lauten Aufschlag eines schweren Gegenstands und einem nachfolgenden durchdringenden Geheul aus dem Schlaf gerissen. Es kam von dem Pointer des Photographen S., der das Dachatelier innehatte. Der auf den Lärm herausgeeilte Hausmeister blickte nach oben und sah das erleuchtete Fenster, wo der Hund stand und herzzerreißend jaulte. Im nächsten Moment entdeckte der Hausmeister auf dem Pflaster den reglosen Körper von S., dessen Sturz offenbar den Lärm ausgelöst hatte. Vor den Augen des bestürzten Hausmeisters sprang der Pointer plötzlich herunter und schlug unweit des Leichnams seines Herrn auf.
    Es gibt zahlreiche Legenden über die Hundetreue, aber eine Aufopferung, die den Selbsterhaltungstrieb überwindet und den Tod verachtet, kommt bei unseren vierbeinigen Freunden doch höchst selten vor. Und noch seltener Selbstmord.
    Die Polizei vermutete zunächst, daß S., bekannt für seine liederliche und nicht immer nüchterne Lebensweise, zufällig aus dem Fenster gefallen wäre, doch eine in der Wohnung gefundene Mitteilung in Gedichtform machte deutlich, daß der Photograph Hand an sich gelegt hatte. Die Beweggründe für diesen Verzweiflungsschritt sind unklar. Nachbarn und Bekannte von S. sagten aus, daß er keinerlei Anlaß |6| gehabt habe, seinem Leben ein Ende zu setzen, im Gegenteil, er sei in den letzten Tagen in bester Stimmung gewesen.
»Moskauer Kurier« vom 4. (17.) August 1900, S. 6
    L. S.
     
    DAS GEHEIMNIS DES VERHÄNGNISVOLLEN GELAGES GELÜFTET
    Unglaubliche Einzelheiten des tragischen Vorfalls in der Furmanny-Gasse
    Wie bereits vor drei Tagen gemeldet, nahm die Geburtstagsfeier, zu der der Gymnasiallehrer Soimonow vier Arbeitskollegen eingeladen hatte, ein höchst betrübliches Ende. Der Hausherr und seine Gäste wurden am gedeckten Tisch leblos aufgefunden. Die Obduktion der Leichen ergab, daß die Todesursache bei allen fünf Personen Portwein der Marke Castello war, der eine ungeheuerliche Dosis Arsen enthielt. Diese Nachricht bewegte die ganze Stadt, und in den Weinhandlungen ging die Nachfrage nach dem genannten Wein, der zuvor bei den Moskowitern beliebt gewesen war, auf Null zurück. Die Polizei leitete eine Ermittlung gegen die Abfüllfirma der Gebrüder Stamm ein, die den Castello an die Weinhandlungen ausgeliefert hatte.
    Aber heute steht fest, daß dem geschätzten Getränk nichts vorzuwerfen ist. In der Tasche von Soimonows Gehrock fand sich ein Zettel folgenden Inhalts:
     
    Abschiedsgedicht
    Ohne Liebe ist kein Leben!
     
    Wachsam ständig acht zu geben,
    Zwanghaft lächelnd sich zu plagen,
    Muß ich nun nicht mehr ertragen.
    |7| Schluß, ihr Spötter könnt nun gehen,
    Hattet Spaß, es ist geschehen.
    Helft dem jungen Bräutigam,
    Seine Trauung naht heran.
     
    Stehe an dem offnen Grabe
    Ruf sie, die mit dunkler Gabe
    Zeigte mir der Liebe Sinn:
     
    »Wie die Blume nimm mich hin!«
     
    Der Sinn dieses Abschiedsgedichts ist dunkel, doch wird deutlich, daß Soimonow vorsätzlich aus dem Leben ging und das Gift selbst in die Flasche schüttete. Das Motiv für die Wahnsinnstat ist unverständlich. Der Selbstmörder war ein verschlossener und verschrobener Mensch, zeigte jedoch keinerlei Anzeichen eines seelischen Leidens. Wie Ihrem gehorsamen Diener zu ermitteln gelang, war der Verewigte im Gymnasium nicht beliebt: Bei den Schülern galt er als strenger und langweiliger Lehrer, die Kollegen warfen ihm Hochmut und Galligkeit vor, und manche bespöttelten auch sein sonderbares Benehmen und seinen krankhaften Geiz. Aber all das reicht nicht aus als Beweggrund für eine so aberwitzige Handlungsweise.
    Soimonow besaß weder Familie noch Dienerschaft. Nach der Aussage seiner Vermieterin, Frau G., ging er abends häufig aus und kehrte erst lange nach Mitternacht zurück. Unter seinen Papieren fanden sich zahlreiche Rohentwürfe für Gedichte düstersten Inhalts. Keiner seiner Arbeitskollegen hatte gewußt, daß er Gedichte schrieb, und als sie über die poetischen Versuche dieses »Menschen im Futteral« 1 unterrichtet wurden, weigerten sie sich gar, das zu glauben.
    Die Einladung zum Geburtstag, der so entsetzlich endete, kam für die Gymnasiallehrer gänzlich überraschend. Nie zuvor hatte |8| Soimonow Gäste zu sich gebeten, und auf einmal hatte er ausgerechnet die vier Kollegen
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