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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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gerade kochen. Jetzt ist es auch schlecht, sie wird auf dem Feld sein. Nein, vielleicht schläft sie ja schon, da will ich sie nicht stören. Heute ist Sonntag, da geht sie mit Sicher heit zur Kirche. Ach, wozu eigentlich, ich werde ihr nur Ungelegenheiten machen, sie hat ja so viel zu tun.
    Als er endlich allen Mut zusammengenommen hatte, antwortete ihm die Stimme, die er schon seit Ewigkeiten zu kennen glaubte.
    Â»Ja, bitte?«
    Einen Moment lang hielt er den Atem an, bevor er etwas sagen konnte.
    Â»Luisa.«
    Â»Nein, ich bin Anna, die Tochter.« Sie schien eine Hand auf die Muschel gelegt zu haben, denn ihr Rufen hörte sich gedämpft an. »Mamaaaa, für dich!«
    Eine Pause, dann:
    Â»Ich weiß auch nicht. Ein Mann.«
    Das Geräusch, wie der Hörer übergeben wurde.
    Â»Ja, bitte? Wer ist da?«
    Â»Luisa. Hier ist Paolo.«
    Fast ein Schrei. »Ach! Das ist schön!«
    Dieses »Das ist schön« hatte Paolo nicht erwartet. Ein plötzliche Leichtigkeit erfasste ihn.
    Â»Ich habe so sehr versucht, dich zu erreichen«, fuhr Luisa fort. »Ich bin sogar zur Post gegangen, um deine Nummer herauszubekommen. Aber bei euch gibt es ja bestimmt fünfzig Familien mit diesem Namen …«
    Paolo merkte es nicht, doch ein breites Lächeln überzog sein Gesicht.
    Â»Dafür seid ihr die Einzigen bei euch im Dorf, Luisa.«
    Â»Wo haben sie deinen Sohn hingebracht?«
    Â»Bad’e Carros. Und deinen Mann?«
    Â»Porto Azzurro.«
    Sie schwiegen. Lauschten gegenseitig auf den Atem des anderen. Dieses Schweigen war so, wie sie es kann ten: kein Schweigen der Verlegenheit, sondern des Trostes.
    Â»Ach ja«, fuhr Luisa dann fort, »seit Tagen schon wollte ich dir etwas sagen. Ich habe ihn jetzt verstanden!«
    Â»Was hast du verstanden?«
    Â»Den Witz mit der Gräfin.«
    Â»Der auf den Spiegeln?«
    Â»Ja, ich habe immer wieder daran gedacht. Ich konnte gar nicht aufhören, daran zu denken, weil ich ihn einfach nicht begriff. Und dann, vor ein paar Tagen, während ich so dasitze und einen Bezug flicke, verstehe ich ihn plötzlich. Die ganze Zeit hatte ich gedacht, sie sagt: ›Ich sah nicht gut aus.‹ Kein Wunder, dass ich es nicht verstanden habe! Aber sie sagt ja: ›Das sah nicht gut aus.‹ Wie dumm!«
    Â»Nein, Luisa, du bist nicht dumm. Das kann ich dir nur immer wieder sagen.«
    Â»Ach, nicht ich.« Ihre Stimme klang aufgekratzt. »Der Witz. Der Witz ist dumm.«
    Â»Ach ja, natürlich. Saudumm ist der.«
    Luisa stieß die Luft durch die Nase aus und begann zu kichern.
    Â»Der dümmste Witz, den ich je gehört habe.«
    Auch Paolo spürte jetzt ein Kitzeln im Hals.
    Â»Und noch nicht mal besonders lustig.«
    Â»Nein. Wer kann schon über so was lachen?«
    Â»Das möchte ich auch gern mal wissen.«
    Und doch lachten beide mittlerweile, lachten schallend, hielten sich die Bäuche vor Lachen. Lachten wie alte Eheleute, die gemeinsam Kinder großgezogen und miterlebt haben, wie die Enkelkinder heranwuchsen. Sie lachten, als würden sie am nächsten Morgen zusammen in jenem Bett aufwachen, in dem sie fünfzig Jahre lang Arm in Arm geschlafen haben, seine weiß behaarte Brust an ihrer Schulter – mittlerweile mit Fle cken getüpfelt, aber darum nicht weniger geliebt, als wäre sie noch so glatt wie Seide. Sie lachten wie ein Mann und eine Frau, die, wenn sie einander anschauen, all die Jahre vor sich sehen, die Monate, Tage, Stunden, die sie gemeinsam verbracht haben.
    Solange Paolo noch lebte, spürte er, wenn er an dieses letzte gemeinsame Lachen mit Luisa zurückdachte, immer ein Kitzeln im Hals, den Reiz, einfach loszulachen ohne einen besonderen Grund. Und dann, gleich darauf, kam ihm eine andere Erinnerung in den Sinn, als handele es sich bei den beiden Begebenheiten, dieser sowie der Begegnung mit Luisa, um Zwillingssterne: Er konnte das Teleskop der Erinnerung nicht auf einen Stern richten, ohne dass auch der andere erschien.
    Es handelte sich um ein Erlebnis in Framura, als sein Sohn noch ein kleiner Junge war. Sie beide hatten sich aufgemacht, einen Tunnel der stillgelegten Eisenbahnlinie zu erkunden, die an der ligurischen Küste entlangführte. Abgesehen von dem kleinen Lichtkreis der Taschenlampe war die Finsternis total. Sie hatten sich schon weit vom Tunneleingang entfernt und keine Ahnung, wie weit es noch bis zum Ausgang war. Immer wieder
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