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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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Zielscheibe zu schlafen. Irgendwann dann wurde der Ausnahmezustand gelockert, und es war klar, dass, zumindest im Augenblick, niemand hingerichtet würde.
    Von dem Treffen, bei dem ihm sein Sohn diese Geschichte erzählt hatte, fuhr er gut gelaunt nach Hause. Sich inmitten dieses Grauens noch gegenseitig Streiche zu spielen, hatte auch etwas zutiefst Menschliches. Und gegen das Fieber des Dogmas gab es keine bessere Medizin als das Lachen. Damals hatte Paolo zum ersten Mal gedacht, dass es für seinen Sohn doch noch Hoffnung geben könnte.
    Entdramatisieren. Entglorifizieren.
    Rettende Worte, wenn man sich inmitten einer Tragödie befand. Doch welches Drama so ein Mädchen in Unterhose zu bewältigen hatte, konnte Paolo partout nicht verstehen.
    Er stand auf und schaltete den Fernseher ab. Dann ließ er sich aufs Sofa fallen und bewegte sich eine ganze Weile nicht mehr.
    Die Mitteilung der Strafvollzugsbehörde lag offen auf dem Tischchen vor dem Sofa. Der Anwalt seines Sohnes hatte sie ihm geschickt. Er nahm sie zur Hand. Las sie noch einmal durch.
    Wie gewissenhaft der Leiter der Außenstelle diese Auflistung verfasst hatte. Eine seltsame Besonnenheit schien darin zu liegen, eine absurde Vernunft – genau das also, was während dieser Revolte, die zu den aufgelisteten Zerstörungen geführt hatte, mit Sicherheit zu kurz gekommen war.
    Fast vierundzwanzig Stunden hatte der Aufstand gedauert. Danach hatte man das nahezu vollständig verwüstete Hochsicherheitsgefängnis sofort geschlossen und die Häftlinge, die sich erst nach langen Verhandlungen ergeben hatten, in andere, über das ganze Land verstreute Haftanstalten gebracht.
    Als Paolo von der Revolte erfahren hatte, zunächst durch die übliche reißerische, unerbittliche, verleumderische Berichterstattung im Fernsehen, dann durch einen Anruf des Anwalts, war sein erster Gedanke: Hoffentlich haben sie ihm nichts getan.
    Und als er hörte, nein, sein Sohn sei unverletzt geblieben, war sein zweiter Gedanke sofort: Luisa und ich werden jetzt andere Gefängnisse besuchen. Wir werden uns nie mehr treffen .
    Und wie die Tage vergingen und die Revolte in den Fernsehnachrichten in den Hintergrund rückte und die Gefangenen verlegt wurden und alle erleichtert aufatmeten, weil diese ganze Sache, abgesehen von der Armverletzung des Aufsehers durch ein Messer, weniger brutal abgegangen war, als man hatte befürchten müssen, merkte Paolo, dass es immer stärker dieser Gedanke war, der ihn beschäftigte.
    Ich werde sie nicht mehr sehen.
    Als die Autofähre, auf der sie die Nacht miteinander verbracht hatten, im Hafen eingelaufen war, waren sie wie ein beliebiges Pärchen von Bord gegangen. Auf der Landebrücke hatte er ihr den Arm gereicht und ihre Tasche genommen. Zusammen waren sie zum Bahnhof gelaufen und hatten dort den Fahrplan stu diert. Sie kauften ihre Fahrkarten, frühstückten in einer Bar mit Milchkaffee und Hörnchen und warteten auf die Abfahrt ihrer Züge: Richtung Nordwesten der von Paolo und Richtung Nordosten der ihre.
    Adressen oder Telefonnummern hatten sie nicht ausgetauscht. Doch bis zum Augenblick der Trennung hatten sich ihre Hände nicht voneinander gelöst.
    Der Fernseher war schon eine ganze Weile ausgeschal tet. Draußen vor dem Fenster summte die Stille der nächtlichen Stadt. Paolo hätte nicht sagen können, wann er sich genau entschloss, vom Sofa aufzustehen und zum Telefon hinüberzugehen. Irgendwann wurde er sich ganz einfach bewusst, dass er im Flur vor dem Apparat stand und die Nummer der Auskunft wählte, nachdem er sich auf den ersten Seiten im Telefonbuch vergewissert hatte, dass diese tatsächlich, wie vermutet, rund um die Uhr besetzt war.
    Luisa hatte ihm ihren Nachnamen gesagt und auch, wie der Ortsteil des Dorfes hieß, in dem sie seit ihrer Heirat lebte. Diese Anhaltspunkte gab er jetzt der netten Dame am anderen Ende der Leitung weiter.
    Nach einer kurzen Pause erhielt er eine Vorwahl und eine Telefonnummer. Paolo notierte sie auf dem kleinen Block, der, zusammen mit einem Kugelschrei ber, an einer Kordel an der Wand hing. Er bedankte sich. Legte auf. Riss den Zettel vom Block ab und steckte den Kugelschreiber wieder zwischen die Spiralen, die ihn zusammenhielten.
    Das war ja einfach .
    Drei Tage brauchte er, um sich zu einem Anruf durchzuringen.
    Jedes Mal, wenn er kurz davor war, fand er wieder eine neue Ausrede: Nein, jetzt wird sie
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