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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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stolpernd, drangen sie tiefer und tiefer in die Dunkelheit ein. Sein Sohn, damals mochte er wohl acht gewesen sein, ging an Paolos Hand, umklammerte sie fest mit der ganzen Fläche seiner eigenen kleinen Hand. Um die Angst zu vertreiben, hatten sie zu laut zu rufen begonnen.
    Â»Kuckuck!«, rief der Sohn.
    Â»Tataaaà!«, rief der Vater.
    Und das enge Gewölbe des Tunnels, unsichtbar in der Dunkelheit, antwortete mit seinem Echo.
    Plötzlich erblickten sie vor sich einen undeutlichen Lichtschein, der das Dunkel zerriss, aber nicht die unverwechselbare spitzbogige Kontur der beiden Tunnelausgänge aufwies. Je näher sie kamen, desto heller wurde das Licht, bis sie erkannten, woher es kam: von einer Öffnung in der rechten Tunnelseite, die zum Meer hin lag. Sie war schmal und teilweise von großen Steinen versperrt, doch mit Händen und Knien bahnten sie sich einen Weg und gelangten ins Freie. Es war ein sonniger Tag, und einige Augenblicke standen sie, von dem grellen Licht geblendet, nur reglos da und schirmten die Augen gegen die Sonne ab. Als sie die Hände sinken lassen konnten, erkannten sie, wo sie herausgekommen waren: auf einem Felsvorsprung voller Gestrüpp und Steinhaufen steil über dem Meer.
    Senkrecht unter ihnen brachen sich die Wellen donnernd an der Betonmauer, mit der die Trasse der alten Eisenbahnlinie befestigt worden war. Noch einen Schritt weiter, und sie wären von dem weißen Brodeln in einigen Dutzend Metern Tiefe verschlungen worden. Doch der Vater hielt den Sohn an den Schultern fest, während sich der Sohn mit seinem ganzen Gewicht gegen dessen Körper zurücklehnte. Lange standen sie so da und schauten auf das schäumende Meer, das sich unter ihnen gegen die Klippen warf, und beide hatten keine Angst.
    Weder Vater noch Sohn wussten, wie lange der Tunnel noch war, den sie verlassen hatten. Um nach Hause zu kommen, würden sie umkehren und wieder, fast blind, den Weg Richtung Eingang zurückgehen müssen. Doch in diesem Moment erlebten sie eine Pause vom Dunkel. Und standen hier in diesem Licht, in diesem Wind, hoch über dem Meer.
    Und jedes Mal, wenn Paolo in den folgenden Jahren an diesen Moment zurückdachte, hörte er – obwohl er wusste, dass es nur eine Überlagerung zweier Erinnerungen war – die Stimme seines kleinen Sohnes, der die Worte sprach, die in Wirklichkeit erst Luisa viele Jahre später sagen sollte: »Es sieht aus wie Milch. Oder wie Sahne, nein, wie Schaum auf einem Bier.«

DREISSIG JAHRE SPÄTER
    DREISSIG
    JAHRE
    SPÄTER

B ereits vor der Schließung des Hochsicherheitsgefängnisses, die nach den Ereignissen der Gefangenenrevolte erfolgte, hatte Nitti Pierfrancesco bei der zuständigen Behörde den Antrag gestellt, aus gesundheitlichen Gründen in ein Büro der Gefängnisverwaltung versetzt zu werden.
    Der Antrag wurde abgelehnt. Im darauf folgenden Jahr musste sich Nitti wegen Magengeschwüren, von denen eines bereits durchgebrochen war, einer Operation unterziehen. Nach der Rückkehr aus der Klinik stellte er den Antrag erneut. Dieses Mal wurde ihm stattgegeben.
    Seit der Pensionierung lebt er mit seiner Frau in einem Haus jenseits der Meeresenge. Aus den Esszimmerfenstern kann man zur Insel hinüberschauen. Die Gefängnisgebäude wurden abgerissen, und heute ist die gesamte Insel ein Naturschutzgebiet. In einigen Monaten werden er und Maria Caterina zum dritten Mal Großeltern.
    Sechs Jahre nach Luisas Besuch auf der Insel starb ihr Ehemann im Gefängnis von Fossombrone an einem Herzinfarkt.
    Seit einigen Jahren hat Luisa eine Beziehung mit einem Mann, einem Freund aus Kindertagen, der seine Frau verloren hat: Jeden Freitag führt er sie zum Tanzen aus und bleibt dann über Nacht bei ihr. Mehrmals schon hat er um ihre Hand angehalten, doch an einer Heirat ist sie nicht interessiert.
    Luisa hält keine Tiere mehr. Wie alle im Ort baut sie jetzt Äpfel an. In den zurückliegenden Jahren hat sie verschiedene Portemonnaies in Gebrauch gehabt, das letzte hat ihr eines ihrer neun Enkelkinder geschenkt (sie hat auch bereits einen Urenkel). Im hintersten Fach steckt immer ein vergilbter, mittlerweile über dreißig Jahre alter Zeitungsausschnitt, dessen Falten mit Tesafilm verstärkt sind, damit er nicht auseinander fällt.
    Nachdem Paolos Sohn seine Strafe verbüßt hatte – neunzehn Jahre Haft, dazu acht Jahre Haft als Freigänger –, wurde
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