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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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Vortag nur ein laues Lüftchen war. Er dachte an das eine Mal, als er einem Häftling, der noch nicht lange bei ihnen war, den Kopf ins Stehklo gepresst hatte, weil er »Lutsch mir den Schwanz, Wärter« zu ihm gesagt hatte. Oder wie er einmal mit einem Balken eine Bürotür verrammelt hatte, damit niemand stören konnte, während ein Kollege in aller Ruhe einem Inhaftierten, mit dem es seit Monaten nur Ärger gab, eine Abreibung verpasste. Oder daran, wie er und drei weitere Beamte mit zwei Politischen, die sich partout nicht an die Gefängnisordnung halten wollten, zu einer Klippe hoch über dem Meer hinausgefahren waren, wo sie die Pistolen gezogen und eine Scheinexe kution veranstaltet hatten. An den Gestank der Scheiße von einem der beiden, der sich in Todesangst vollmachte. Und auch daran, wie er einmal einen Häftling mit Tritten und Fäusten so fertiggemacht hatte, dass die Kollegen herbeigelaufen waren, um den Mann unter ihm hervorzuholen. Ihm fiel wieder ein, dass er einen anderen mal festgehalten hatte, während ein Kollege den Mann vollpinkelte, wobei etwas von der Pisse auch auf seiner Hose gelandet war. Klar, diese Gämse hatte es nicht besser verdient, monatelang schon hatte dieser Typ Leute schikaniert, besonders die Schwächsten, und deswegen war ihm auch niemand zu Hilfe gekommen, obwohl sie ihn extra auf den Hof geschleppt hatten, damit alle seine Erniedrigung verfolgen konnten.
    Und er dachte daran, wie er Maria Caterina zum ersten Mal gesehen, wie er zum ersten Mal mir ihr geschlafen hatte.
    An die Zeit, als all diese Dinge noch nicht geschehen waren.
    An die Zeit, als er sich diese Dinge noch nicht einmal hätte vorstellen können.
    An den Gestank von Blut und Angst, den ein zusammengeschlagener Mensch von sich gab.
    An die völlige Erstarrung, in die manche Gefangenen in ihrer Verzweiflung versanken wie in ein Grab und die am Gefängnis mit Abstand das Schlimmste war.
    An das Gesicht, das seine Frau machen würde, wenn sie von all diesen Dingen erführe.
    Sein Oberkörper knickte ein, und der Kopf sank an Maria Caterinas Brust – wie ein Baum, der, vom Blitz gefällt, in ein Weizenfeld stürzt. Er presste das Gesicht gegen diesen ihm so vertrauten, so unentbehrlichen weichen Körper. Und ihm wurde klar, dass er sie niemals finden würde, die Worte, die sie sich von ihm erhoffte.

HOHE SEE
    HOHE
    SEE

S ie erreichten die Hauptinsel, als es bereits dämmerte. Beim Anlegen waren alle erleichtert. Die Fähre hatte heftig auf den Wellen in der Meerenge getanzt, und einige Passagiere hatten sich übergeben müssen. Auch Luisas Gesicht war, als sie von Bord ging, blasser als beim Ablegen. Das von Paolo nicht. Schon als Kind hatte er, wenn er mit seinen Eltern im Bus zu den Großeltern fuhr, trotz der kurvigen Strecke durch die Hügellandschaft nicht von seinem Buch aufgesehen. Ebenso wenig war er je seekrank geworden.
    Der Maestrale hatte auch den Fährverkehr mit dem Festland lahmgelegt. Nach der Autofähre, mit der Paolo und Luisa gekommen waren, war keine mehr in See gestochen. Doch ein Angestellter vom Hafenamt beruhigte sie: Am Morgen habe in dem großen Festlandhafen im Norden eine Fähre abgelegt, die in Kürze eintreffen und dann bald, nach einem Aufenthalt von nur wenigen Stunden, zur Nachtüberfahrt aufbrechen werde. Am nächsten Morgen würden sie dann am Festland erwachen.
    Sie betraten die Bar neben dem Fahrkartenschalter. Die Laminattischchen waren fleckig, der Fußboden mit Sägespänen bestreut, die Kellnerin mürrisch. Nach einem eiligen Espresso im Stehen an der Theke brauchten sie kein Wort darüber zu verlieren, dass sie nur schnell wieder hinauswollten.
    Ãœberhaupt hatten sie trotz des Windes keine Lust, sich in einem geschlossenen Raum aufzuhalten. So suchten sie sich auf dem Kai einen etwas geschützten Platz hinter einem Mäuerchen. Schweigend saßen sie da und schauten hinüber auf die Umrisse der Insel jenseits der Meerenge. Eintönig dunkel hob sie sich von dem immer noch durch ein diffuses Licht schwach erhellten Himmel ab. Nur einige wenige hellere Pünktchen waren auf der schattenhaften Insel zu erkennen; das mussten die Lichter jener Handvoll niedriger Gebäude unweit der Zentrale sein.
    Als es schon fast ganz dunkel war, erkannten sie draußen auf See plötzlich die Lichter der eintreffenden Fähre. Sie durchpflügte das bleifarbene Meer und wurde
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