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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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und Verhaftungen hatten daran nichts geändert. Es war und blieb für beide undenkbar. Und sei es auch nur, weil in ihrem Kopf kein Platz dafür war: Von Paolo hatte die Trauer vollkommen Besitz ergriffen, von Luisa die Mühe des Alltags.
    Einmal hatte es in Paolos Leben eine Ausnahme von dieser Haltung gegeben, und das war, als er vor dem Operationssaal wartete, in dem Emilias zweite, mittlerweile sinnlose Darmoperation durchgeführt wurde. Da hatte er es einen schwindelerregenden Moment lang erlebt, dass er Emilia hasste, und Groll und Wut auf seine Frau, die am Sterben war und ihn allein ließ, überkamen ihn. Während er so dasaß, trat die Kranken schwester zu ihm, um ihm mitzuteilen, dass die Operation beendet sei. Sie war jung, prall, gesund. Paolos ganze Wut löste sich in einem Anfall so drängenden Verlangens, dass er eine Erektion bekam. Die Erinnerung an diesen Vorfall, über den er nie mit irgendjemandem gesprochen hatte, ließ ihn noch lange danach vor Scham erschauern, schenkte ihm jedoch auch so etwas wie ein kurzes Glücksgefühl: So als habe eine archaische, vormoralische, aber auch sehr überzeugende Stimme »Du lebst noch« zu ihm sagen wollen.
    Wie üblich und richtig, war Luisa als Jungfrau in die Ehe gegangen. Ihre Freundinnen, die bereits verheiratet waren, hatten ihr gesagt, dass sie sich nicht wer weiß was von der Hochzeitsnacht erwarten solle. Sie war achtzehn, ihr Mann neunzehn. Auch er hatte noch nie eine Frau berührt, und so war es für beide eher eine Erleichterung, als sie, in dieser ersten Nacht, die Sache hinter sich gebracht hatten. Aber auch danach wurde es nicht viel besser: Seine Berührungen blieben auf das Wesentliche beschränkt, und Berührungen von ihrer Seite gab es überhaupt nicht, ja, sie konnte sich noch nicht einmal vorstellen, dass es sie hätte geben können. Dennoch geschah es hin und wieder, dass Luisa in diesen ersten Wochen, während dieses nüchternen, elementaren Verkehrs, unbekannte Gefühle überkamen. Eine besondere Empfindsamkeit ihres Körpers. Nicht direkt Wollust, sondern so etwas wie ein Echo davon. Ein Sehnen. Die vage Ahnung einer möglichen Vereinigung ihres Körpers mit dem ihres Mannes. Etwas das, wenn es bloß unterstützt und gefördert würde, zur Befriedigung hätte führen können, wenn nicht gar zur Erfüllung.
    In solchen Augenblicken kam es vor, dass Luisa ihren Mann im Arm hielt und lächelte.
    Niemand hatte Luisa je darüber aufgeklärt, dass eine Frau zusammen mit ihrem Mann zum Höhepunkt kommen konnte. Und niemand hatte ihrem Ehemann je gesagt, wie stark und erfüllt sich ein Mann fühlte, der seiner Frau Befriedigung schenkte. So lernten sie nichts über den anderen, und um nicht immer wieder enttäuscht zu werden, hörte Luisa bald schon damit auf, ihren Empfindungen nachzuspüren. Ihr Körper wurde blind und taub, während ihr Mann mit seinen Bewegungen allein blieb. Und noch bevor die Sache mit den Kanten der Anrichte und dem verletzten Jochbein und all die anderen Dinge geschahen, verkam ihr Ehebett von einer Stätte der Liebe zu einem Ort körperlicher Ertüchtigung.
    Weder Paolo noch Luisa hatten sich also jemals vorstellen können, dass ihr Körper wieder nackt ne ben einem anderen ebenfalls nackten Körper liegen würde. Dass es eine Liebe fern des Festlands der Alltäglichkeiten geben könnte, tausend Seemeilen von der Küste aller Pläne entfernt. Eine Liebe, die wie ein Schiff auf dem Ozean um sich herum nichts hatte als die grenzenlose Weite möglicher Routen, die zu erkunden jedoch, wie beide Seiten wussten, weder die Zeit noch die Umstände erlauben würden. Eine Liebe, die aber dennoch nicht weniger real war als eine Bindung, die sicher am Ufer verankert lag.
    Eine Liebe auf hoher See.
    Dieser Art war die Liebe, die Paolo und Luisa in dieser Nacht erlebten.
    Die beiden schmalen Betten waren übereinander angeordnet. Das obere benutzten sie zum Ablegen ihrer Kleidung, und auf dem unteren schliefen sie irgendwann Arm in Arm ein.
    Als Paolo die Augen aufschlug, war es schon längere Zeit hell. Er lag allein im Bett. Luisa war bereits angezogen, der Rock verhüllte die muskulösen Beine, die er liebkost hatte. Sie stand vor dem Etagenbett und hatte eine Hand in einer Tasche seiner Hose. Schweigend beobachtete er sie. Ihre Gesten ließen keine Zweifel an ihren Absichten zu: Sie
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