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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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fallen. So stand sie da, nur noch in Slip und BH, und schenkte der Welt ein ebenso strahlendes wie versteinertes Lächeln.
    Der Moderator verfiel in einen wahren Begeisterungstaumel. Seine Augen begannen zu glänzen, sein Schnurrbart bebte, das Fett unter seinem Hemd schwab belte, und den Blick starr ins Publikum zu Hause – also auf Paolo – gerichtet, rief er:
    Â»Wir sind gegen Erotik im Dunkeln. Wir entglorifizieren sie, wir spielen mit ihr, wir entdramatisieren sie. Spielen Sie mit uns, spielen Sie mit bei Wilder Pyjama !«
    Dann gab er ab für eine Werbepause (für eine Möbelfabrik).
    Entglorifizieren. Entdramatisieren.
    Was für seltsame Worte.
    Worte, die Paolo im Fernsehen zuvor noch nie gehört hatte.
    Während eines Besuchs hatte sein Sohn ihm erzählt, was im Hochsicherheitsbereich des Gefängnisses geschehen war, gleich nachdem man die Leiche des hochrangigen Politikers gefunden hatte – die entsetzlichsten, bedrohlichsten und undurchsichtigsten Tage jener bleiernen Jahre. Die inhaftierten Mitglieder der Gruppe, die für die Ermordung verantwortlich war, schlossen die Möglichkeit nicht mehr aus, dass man sie als Vergeltungsmaßnahme im Gefängnis ohne Verfahren hinrichten würde. Allzu deutlich stand ihnen vor Augen, was nicht lange zuvor im Stammheimer Gefängnis geschehen war.
    Diese Gefangenen hatten immer einkalkuliert, viel leicht bei einem Schusswechsel getötet zu werden. Ans Alter dachte sicher niemand von ihnen. Einige hatten bereits Genossen durch Schüsse der Sicherheitskräfte sterben sehen, Menschen, mit denen sie Freundschaft, in manchen Fällen sogar Liebe verband. Doch die Vorstellung, ein paramilitärisches Kommando dringe in ihre Zelle ein, um sie mit einem aufgesetzten Schuss in die Stirn im Schlaf zu erschießen – sie wussten, dass eine Hinrichtung nur auf diese Weise, ganz gewiss nicht am hellichten Tag, stattfinden würde –, dieser Gedanke war entsetzlich. Die Angst zu sterben mit einem Male unerträglich.
    Ihre Nerven hielten dem Druck fast nicht stand, dieser Mischung aus Unsicherheit, Langeweile und Anspannung. Jedes ungewöhnliche Geräusch, jede Bewegung am Guckloch, jede etwas längere Stille ließ sie augenblicklich glauben, jetzt, jetzt sei es so weit, der Befehl zur Hinrichtung erteilt, ihre letztes Stündlein angebrochen. Und dann schoss das Adrenalin ins Blut, der Blutdruck stieg, das Herz begann zu rasen.
    Unzählige Male am Tag wiederholte sich diese Szene. Sich irgendwie gegen die Gefahr zu schützen, hätte wenig genützt. Sie zu ignorieren, war unmöglich. Wollten sie nicht den Verstand verlieren, gab es nur noch eins: darüber lachen.
    Aber wie? Als sich einer von ihnen den Scherz erlaubte, mit großem Geschrei und einer Sturmhaube (ein alter Pullover) maskiert das Eindringen in die Zelle zu simulieren, hätte ein älterer Genosse mit ohnehin angegriffener Gesundheit fast einen Infarkt bekommen. Und gelacht hatte niemand. So überlegten sie nun, dass sich der Staat, wenn er tatsächlich einen Überfall mit seinen Henkern plante, mit Sicherheit als Hauptziel den Anführer ihrer Gruppe aussuchte. Er würde der Erste sein, der dran glauben musste, da bestand kein Zweifel. Und so beschlossen seine fünf Zellengenossen, ihm den Streich zu spielen.
    In der folgenden Nacht blieb alles friedlich, soweit man in einem Gefängnis von »friedlich« reden konnte. Kein Tötungskommando, keine Spezialeinheit hatte, während sie schliefen, das Feuer eröffnet, und am Morgen waren alle heil und munter. Als aber der Anführer der Gruppe von seiner Pritsche aufstand, erblickte er an der Wand darüber eine ununterbrochene Reihe kleiner Pfeile, die dort offenbar in der Nacht aufgemalt worden waren. Die Reihe zog sich von der Zellentür bis zum Kopfende seiner Pritsche, und die Pfeile zeigten eindeutig den Weg zu ihm, oder ge nauer zu seinem Kopf.
    Â»Du bist doch der Anführer«, erklärten ihm die Zellengenossen. »Wenn die hier einbrechen, um dich abzuknallen, dann möchten wir auch, dass sie wirklich dich finden. Es würde uns ziemlich nerven, wenn sie stattdessen einen von uns erwischen.«
    Gar nicht damit einverstanden, machte sich der Anführer der Gruppe daran, die Pfeile zu beseitigen. Doch jede Nacht zeichneten seine Zellengenossen sie neu. So musste er sich schließlich damit abfinden, auf diese Weise wochenlang als lebende
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