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Turner 01 - Dunkle Schuld

Turner 01 - Dunkle Schuld

Titel: Turner 01 - Dunkle Schuld
Autoren: James Sallis
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Sorgfalt hob sie das Instrument aus dem Koffer, legte es auf ihren Schoß, begann es zu stimmen. »Das ist wirklich unglaublich. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
    Der Nagel ihres Mittelfingers senkte sich blitzschnell, ließ die dritte Saite erklingen, strich darüber, fiel dann auf die vierte Saite, hämmerte darauf. Dazwischen, in dieser äußerst seltsamen Synkope, die nirgends sonst zu hören ist, ließ ihr angespannter Daumen die fünfte Saite erklingen.
    L’il Birdie, L’il Birdie,
Come sing to me a song.
I’ve a short while to be here
And a long time to be gone.
    Val hielt das Banjo vor sich, betrachtete es. Ich hatte vergessen, oder bis zu diesem Moment vielleicht nie wirklich verstanden, was für ein wundervolles Ding es war: ein Kunstwerk für sich, ein Werkzeug, eine alternative Zunge, eine leere Leinwand, eine vollständige, wartende und längst
vergangene Welt. Liebevoll, ehrfürchtig legte Val das Banjo zurück in seinen Kasten. »Ich habe das nicht verdient. Ich bin nicht sicher, ob es überhaupt jemand verdient.«
    »Instrumente sollten gespielt werden. Genau wie Leben gelebt werden sollten.«
    Sie nickte.
    »Komm mit.«
    »Wohin?«
    »An einen ganz besonderen Ort.«
    Die Veranda hinunter und fünfzig Schritte weiter umhüllte uns der Wald, und wir hatten die Zivilisation hinter uns gelassen. Bäume ragten hoch über uns auf. Das Unterholz wimmelte von Leben, von unsichtbaren Dingen. Selbst das Sonnenlicht schien hier behutsam. Wir schritten einen Bach entlang, erreichten unvermittelt einen kleinen See voller Sumpfzypressen. Es waren vielleicht zwei Dutzend Bäume. Hunderte Kniewurzeln durchbrachen die Oberfläche. Dampf stieg vom Wasser auf, erschuf eine außerweltliche, entrückte Atmosphäre.
    »Ich bin in der Nähe eines Ortes genau wie diesem hier aufgewachsen.«
    »Du hast nie viel von deiner Kindheit erzählt.«
    »Nein. Aber das werde ich.«
    Ich griff nach ihrer Hand.
    »Ich habe heute Morgen mit meiner Schwester gesprochen. Der, die mich großgezogen hat. Ich habe überlegt, ob ich sie besuchen fahre, habe mich gefragt, ob du dir vorstellen könntest, mich zu begleiten.«
    »Nach Arizona? Das wäre ein bisschen so, wie Oz zu besuchen. Ich war schon immer neugierig, was Oz betrifft.«
    »Mein Großvater - der, dem das Banjo gehörte. Er hieß John Cleveland. Er hat einen großen Teil seines Lebens damit verbracht, zwischen Zypressen wie diesen hier herumzuwaten. Hat Dinge aus diesen Kniewurzeln hergestellt. Buchstützen, Beistelltische, Lampen. Die meisten meiner Lieblingsbücher habe ich im Schein einer Lampe gelesen, die er mir gemacht hatte. Er hatte Gesichter in die Wurzeln geschnitzt, wie Miniaturausgaben des Mount Rushmore, und sogar Löcher hineingebohrt, damit ich Stifte dort aufbewahren konnte. Er kam vom See zurück und verschwand schnurstracks in der Werkstatt, stand dann dort in triefend nasser Hose, weil er eine neue Kniewurzel gefunden hatte, die ihn zu etwas inspirierte. Wenn man in die Werkstatt kam, sah man nichts als einen halben Morgen Zypressenwurzeln. So wie hier, nur ohne das Wasser.«
    »Es ist fast unerträglich schön, stimmt’s?«, meinte Val. »Ich komme mir vor, als sei ich Zeuge der Schöpfung.« Ihr Arm legte sich um meine Taille, die Hitze ihres Körpers vermischte sich mit meiner eigenen. »Danke.«
    Durchzogen von Sonnenlicht, begann der Dunst sich aufzulösen. Ein Kranich kam über die Bäume hereingeglitten, senkte sich, um kurz das Wasser zu streifen und sich dann sofort wieder in die Lüfte zu schwingen.
    Sprachlos schauten wir zu. Der Sonnenschein schnitt leuchtend helle Scheiben Gold aus dem Wasser.
    »Schätze, wir sollten uns jetzt wohl besser an die Arbeit machen, hm?«
    »Bald«, sagte Val. »Bald.«

Mein Dank gilt
    George Gibson und Michael Seidman
für ihre Geduld und nicht nachlassende Unterstützung,
     
    Vicky, wie immer,
sowie Major Mark Collins
vom Memphis Police Department.

Holmen Book Cream liefert Holmen Papier, Hallstavik, Schweden.
     
     
    Vollständige deutsche Erstausgabe 08/2009
    Copyright © 2003 by James Sallis
    Copyright © 2009 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlagfoto: © David Sacks/Photographer’s Choice/Getty Images
    eISBN : 978-3-641-03302-6
     
    www.heyne.de
    www.randomhouse.de
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