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Kinder

Kinder

Titel: Kinder
Autoren: Jürgen Seibold
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Er klappte das Buch zu und legte es
beiseite. Dann nahm er seine Lesebrille ab, massierte sich die Nasenwurzel und
sah aus dem Fenster. Tief drunten, am Fuß des Hügels, breitete sich nach allen
Seiten dichter Wald aus, zog sich die Hänge gegenüber hinauf und bedeckte
beinahe die ganze Landschaft, die Muhr von seinem Schreibtisch aus übersehen
konnte.
    Der Mond stand als fahle Scheibe am Himmel,
Wolkenfetzen zogen vorbei, vom starken Wind geschoben und verzerrt. Die Nacht
war lau, aber der durch die Ritzen der Erkerfenster dringende Wind wirkte kühl.
    Muhr goss sich ein wenig Wein nach, nahm einen
Schluck und sah wieder hinaus. Er liebte die Vulkaneifel, liebte den Blick von
hier oben auf diese manchmal wie verwunschen daliegende Landschaft, liebte die
Ruhe, die diese Wälder und Hügel und Überreste uralter Krater ausstrahlten.
Irgendwie schien ihm diese Gegend aus der Zeit gefallen, und mit ihr das
Internat, das oben auf dem Cäcilienberg in einem ehemaligen Kloster
untergebracht war.
    Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er
das erste Mal durch das steinerne Tor hindurch den Innenhof betreten hatte. Die
Abgeschiedenheit, der tiefe Frieden, der von dem alten Gemäuer ausging, hatten
ihn so sehr beeindruckt, dass er die Stelle als Mathematiklehrer sofort
angenommen – und alle anderen Vorstellungstermine abgesagt
hatte.
    Er hatte seine Entscheidung nie bereut. Über die
Jahrzehnte war aus dem engagierten Junglehrer Robert Muhr der Rektor des
Internats geworden, und noch immer war er gefangen von der besonderen
Atmosphäre » seiner « Schule.
    Ein leises Knacken hinter ihm schreckte ihn auf.
Muhr drehte sich in seinem Schreibtischstuhl um, aber nichts Ungewöhnliches war
zu sehen. Er lauschte. Nichts. Es war inzwischen so spät in der Nacht, dass
wohl auch die letzten Schüler und Lehrer in den Schlaf gefunden hatten.
    Muhr wandte sich wieder dem Fenster zu und trank
noch einen Schluck. Er ärgerte sich, dass ihn inzwischen selbst ein leises
Geräusch, wie es für das alte Gebäude doch so typisch war, beunruhigte. Wut kam
in ihm auf, wieder einmal, weil die Ereignisse der vergangenen Monate ihm viel
von der Ruhe und dem Frieden geraubt hatten, die er an seinem Leben auf dem
Cäcilienberg so sehr schätzte.
    Die Polizei hatte lange ermittelt, um die
tragischen Vorfälle rund um das Internat aufzudecken. Aber sie hatten keine
Beweise gefunden, keine ausreichenden Indizien – und
er selbst hatte geschwiegen. Er wollte dem Ruf der Schule nicht schaden, gerade
in einer Zeit, in der überall in den Internaten Skandale aufgedeckt oder
zumindest gesucht wurden.
    Muhr lachte bitter auf. Mit sexuellen Übergriffen
hatten die Ereignisse auf dem Cäcilienberg freilich wirklich nichts zu tun.
Aber er wusste inzwischen, dass das längst nicht die einzige schlimme
Möglichkeit war.
    Seine Gedanken rasten, und in schneller Abfolge
tauchten die Bilder der Opfer vor ihm auf, die scheinheiligen Erklärungen der
Verdächtigen, die zynischen Geständnisse unter vier Augen. Und wieder bohrte
sich das Gefühl der Ohnmacht in seinen Magen, das er seit Wochen so gut kannte.
    Natürlich hatte er die beiden sofort entlassen,
und sie hatten verabredet, dass beide Seiten zum Wohl der Schule über alles
schweigen würden. Ihm hätte ohnehin niemand geglaubt, dazu war alles viel zu
geschickt eingefädelt. Von seinen Gegnern viel zu raffiniert mit scheinbar
wasserdichten Alibis und schlüssigen Argumenten verwoben.
    Die beiden würden den Cäcilienberg in wenigen
Tagen verlassen, und niemand würde je wieder ein Wort über die Ereignisse
verlieren.
    Er aber würde mit seinem Wissen leben müssen. Und
mit daran Schuld haben, dass alles ungesühnt blieb. Und nur er würde es wissen.
Nur er, und niemand konnte ihm diese Last abnehmen. Niemandem konnte er sich anvertrauen.
Von niemandem konnte er Trost erwarten. Nie.
    Letztlich würde ihn das seine Freude kosten, mit
der er noch bis vor wenigen Monaten, wenigen Wochen sein Leben als Leiter
dieser Schule genossen hatte. Die Ruhe, der Frieden wären für ihn verloren. Für
immer. Muhr knetete seine Finger, räusperte sich, sah zunehmend verzweifelt auf
die nächtliche Eifel hinaus.
    » Nein! « , knurrte er
schließlich mit rauer Stimme und setzte sich aufrecht hin. » Nein! «
    Mit zitternden Händen wühlte er in den Unterlagen
auf seinem Schreibtisch, kramte eine abgegriffene Visitenkarte hervor und griff
nach dem Telefon. Wie oft schon hatte er diese Karte in der Hand gehalten,
hatte
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