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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe
Autoren: Herve Le Tellier
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THOMAS
    Man gebe den Städten große Parkanlagen. Parks schaffen die Grundlage dafür, dass das Leben der jungen Leute plötzlich umschlagen kann, dass es einen Seitenweg nimmt, einer unvorhergesehenen Gabelung folgt. Dass es einen Teil der in ihm angelegten Möglichkeiten verwirklicht. Einen solchen Park, den Jardin du Luxembourg, betritt an einem Februarmorgen des Jahres 1974 ein Jugendlicher. Er trägt einen Wollschal und lange Haare, er heißt Thomas, Thomas Le Gall.
    Thomas ist ein guter Schüler. Mit gerade mal sechzehn Jahren ist er in eine »Classe Préparatoire« für Mathematik eingeschrieben, er muss die Erwartungen, die seine Mutter in ihn setzt, erfüllen, die Aufnahme an einer Elitehochschule, eine »Grande École« schaffen, am besten wäre die École Polytechnique. Aber an diesem Februarmorgen hat Thomas das Haus verlassen, die Métro genommen – er wohnt in Barbès, im 18. Arrondissement – und ist nicht an der Haltestelle seines Gymnasiums ausgestiegen. Er ist mit der Linie 4 bis zur Station Saint-Michel weitergefahren und dann den Boulevard bis zum Park hinaufgegangen. Er geht zum großen Bassin, vorbei an den Standbildern der Königinnen von Frankreich, lässt sich auf einem Metallstuhl nieder. Er hat seine Eskapadevorbereitet. In seiner Tasche hat er mehrere Bücher. Es ist gar nicht so kalt.
    Am Abend geht er zurück zu seinen Eltern. Er hat Hunger: Zu Mittag hat er eine Baguette und etwas Obst gegessen.
    Am nächsten, übernächsten und allen folgenden Tagen kehrt Thomas in den Jardin du Luxembourg zurück. Der Park wird sein Hauptquartier. Zuweilen trifft er sich dort mit Weggenossen seiner Boheme: ein Mädchen in seinem Alter, Manon, blond, Stupsnase, Sommersprossen und noch deutlicher neben der Kappe als er selbst – der Geruch von Patschuli wird ihn für immer an sie erinnern –, und Kader, ein großer schwarzer Mann, vielleicht so um die dreißig, ein Gitarrenspieler, der in der Métro praktiziert. Wenn es regnet, stellt sich Thomas in einem der Musikpavillons unter oder wärmt sich im Malebranche auf, einem verrauchten Café, wo er rasch zum Stammgast wird, zusammen mit den Eliteschülern, den »khâgneux« vom literarischen Zweig des Lycée Louis-le-Grand. Er diskutiert über Politik, Literatur, streitet lauthals über Proust, Althusser, Trotzki und Barthes, sein Ungestüm ist ebenso groß wie seine Unkenntnis der Texte. Als er sie später wirklich liest, errötet er ob der geäußerten Dummheiten, ist erstaunt über seine ungestraften Aufschneidereien.
    Es wird März, dann April. Thomas hat seine Lehrer darüber informiert, dass er die »Classe Préparatoire« aufgeben wird. Seinen Eltern tischt er, natürlich, eine Lüge auf. Er entdeckt, wie einfach, ja sogar aufregend das ist, wie begabt er für die Lüge ist. Er stinkt nach Tabak? Er empört sich über die Nervosität der Raucher während der mündlichen Prüfungen. Er hat kein Geld fürs Mittagessen? Von nun an muss dieSchulkantine bar bezahlt werden, er behauptet, dass er den Buchhalter der Schule der Untreue verdächtige. Er kommt aus Versehen zu früh nach Hause? Ein Experiment mit der Sauerstoffreduktion ist schiefgegangen, und – »ihr werdet es nicht glauben« – der Chemielehrer hat sich dabei verbrannt. Niemals hatte er so viel vom Unterricht zu erzählen wie seit dem Tage, da er nicht mehr zur Schule ging.
    An einem Abend im Mai strickt Thomas, kaum nach Hause gekommen, gerade den Roman seines Tagesverlaufs zusammen. Der Vater beobachtet ihn wortlos. Plötzlich bricht es aus der Mutter heraus. Sie wissen Bescheid. Die Schule hat angerufen: Er habe ein Buch nicht zurückgegeben, obwohl er sich vor drei Monaten abgemeldet habe. Streit, Wut, Zerwürfnis. Thomas wird nie in eine »Grande École« aufgenommen werden. Er verlässt das elterliche Heim, findet bei einem Freund Unterschlupf. Er lebt von kleinen Jobs – die damalige Vollbeschäftigung macht’s noch möglich –, betreibt ein vages Studium der Psychologie, der Soziologie, verlängert seine Adoleszenz um zehn Jahre. Er wird aus ihr an einem Morgen im Mai durch den Telefonanruf aus einem Polizeikommissariat brutal herausgerissen. Die Frau, die er liebt, Piette, die wegen Depressionen im Krankenhaus behandelt wurde, war gerade erst entlassen worden. Sie hat sich vor einen Zug geworfen. Innerhalb von drei Tagen regelt Thomas den offiziellen Papierkram, organisiert die Trauerfeier, begräbt seine Freundin. Als das Grab zugeschüttet ist, kehrt er in seine Wohnung
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