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Transsibirien Express

Transsibirien Express

Titel: Transsibirien Express
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ein Reisender, der sich sofort erhob, als Mulanow und Forster eintraten. »Darf ich Ihnen behilflich sein?« fragte der Herr.
    »O danke. Es geht schon.«
    Werner Forster hob die Koffer in die Ablage, hängte den Pelzmantel an einen Haken und stellte Fotoapparat und Umhängetasche auf die lange, dick gepolsterte Bank.
    Mulanow klappte ein Tischchen unter dem Fenster heraus und zog das weiße Deckchen gerade, das über die Nackenstütze gezogen war.
    Forster fuhr zum ersten Mal mit einem sowjetischen Luxuszug. Bisher hatte er Rußland nur vom Flugzeug oder Auto aus kennengelernt. Und die ländlichen Züge, die er zweimal benutzen mußte, hatten ihn an Erzählungen von Tolstoi oder Gorki erinnert: es waren rollende, schwankende, rappelnde und in den Federn ächzende Historien.
    Wegen der Pflichterfüllung kontrollierte Mulanow noch schnell die Fahrkarte und das Sonderbillet für den Staatswagen, grüßte dann stramm und verließ das Abteil.
    Er rannte durch den langen Zug zur zweiten Klasse. Dort gab es Streit wegen eines Fensterplatzes. Irgendein Idiot bei der Fahrkartenausgabe hatte zweimal den gleichen Platz reserviert, und nun standen sich zwei Männer gegenüber wie David und Goliath und zankten sich darum.
    Der eine – ein Riese mit einem schönen Baß, der aber leider stotterte –, der andere klein wie ein Frettchen und mit einem Mundwerk, das man nur zuschweißen konnte, damit es stillstand.
    »Ruhe!« brüllte Mulanow. »Sie befinden sich im Transsib, Genossen, und nicht in einem Ferkelzug! Zwei gleiche Nummern? Ist das meine Schuld? Warum einigt man sich nicht? Jeder sitzt einen Tag am Fenster, immer abwechselnd! Ist das so schwer? Beginnen wir mit dem kleinen Genossen …«
    »Wa-warum?« brüllte der Riese zurück. »Er ha-hat Platz im Gepäcknetz!«
    »Ein Baumstamm ohne Hirn!« kreischte der Kleine zurück. »Genosse Schaffner, ich kann Ihnen ein ärztliches Zeugnis beibringen! Im Gepäcknetz! Ich leide seit vier Jahren an chronischen Blähungen. Ich muß mich geradesetzen. Sitze ich krumm – schon geht's los! Soll ich es Ihnen vormachen, Genossen? Auf Ihre Verantwortung! Ich habe ein ärztliches Zeugnis …«
    In seinem Abteil hatte sich Werner Forster an das Fenster gesetzt und blickte hinaus. Er konnte durch den offenen Teil der Halle hinübersehen auf eine Gleisanlage, die etwas außerhalb der Bahnsteige lag.
    Hier warteten Loks und Waggons auf ihre Zusammenstellung oder waren nach der Fahrt abgestellt worden, um gereinigt zu werden.
    Da die Bahnsteige leer waren, beobachtete Forster, daß vor einem langen Zug mit geschlossenen Güterwagen ein paar Milizsoldaten hin und her patrouillierten. Sie hatten Maschinenpistolen vor der Brust und führten Schäferhunde an ihrer Seite.
    Der Herr im Abteil räusperte sich diskret. Forster wandte den Kopf.
    »Wir werden zehn Tage lang zusammen wohnen«, sagte der Herr in einem absichtlich langsam und deutlich gesprochenen Russisch. »Da ist es gut, wenn man sich kennt. Mein Name ist Pal Viktorowitsch Karsanow, Professor der Agrarwissenschaft.«
    Er erhob sich und verneigte sich höflich. Forster verbeugte sich ebenfalls. Wie bei Tolstoi, dachte er von neuem.
    Das ist das Geheimnis Rußlands, vor dem wir sprachlos stehen. Seit über fünfzig Jahren verändert sich in Rußland alles, und es verändert sich so, daß es das neue Gesicht der Welt mitbestimmt – aber im Grunde ihrer Seele bleiben die Russen, was sie immer waren: menschliche Rätsel zwischen Himmel und Hölle!
    Allein schon dieser Zug! Überall spricht man vom Sozialismus, alle Menschen sind gleich … aber man hat eine zweite Klasse mit sechzig Plätzen, man hat erster Klasse mit vier oder sechs Plätzen und Sonderabteile mit zwei Sitzen. Reserviert für hohe Offiziere, Parteifunktionäre und Staatsgäste.
    Wer hat von einer klassenlosen Gesellschaft gepredigt? War's Lenin?
    »Ich heiße Werner Forster und bin Ingenieur.«
    Dann saßen sie sich gegenüber, blickten aus dem Fenster und suchten den Anfang für ein Gespräch. Er sieht aus wie ein biederer Familienvater, dachte Forster. Gutmütig, behäbig, das graumelierte Haar wird schon licht in der Mitte. Er trägt einen Anzug aus dem Kaufhaus, Marke ›Stirallka‹, wie die Leute diese Anzüge nennen, die nach einem Regenguß wirklich wie zusammengenähte Staubtücher aussehen. Die Schuhe sind mehrfach besohlt, das bläuliche Hemd ist zerknittert, nur der rote Schlips ist neu.
    Ein lieber Onkel, ein Professor, der Formeln besser kennt als eine
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