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Totentöchter - Die dritte Generation

Totentöchter - Die dritte Generation

Titel: Totentöchter - Die dritte Generation
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Schrecklichem gewarnt sein sollte, was mir bevorsteht.
    Er dreht sich um und geht zur Tür. Dabei bemerke ich ein leichtes Hinken, das heute Nachmittag noch nicht da war. Unter dem dünnen weißen Stoff seiner Uniform kann ich die frischen blauen Flecken erkennen. Meinetwegen? Ist er bestraft worden, weil er meine Flucht den Flur hinunter ermöglicht hat? Noch mehr Fragen, die ich nicht stelle.
    Dann ist er weg, und ich höre das Klicken, mit dem der Riegel einrastet.

Nicht Gabriel weckt mich am Morgen, sondern ein Aufmarsch von Frauen. Sie sind erste Generation, worauf nur das graue Haar schließen lässt, denn ihre Augen strahlen jugendlich. Sie plaudern miteinander, als sie mir die Decke wegreißen.
    Eine der Frauen mustert meinen nackten Körper und sagt: »Na, wenigstens müssen wir diese nicht mit Gewalt aus ihren Kleidern holen.«
    Diese. Nach allem, was geschehen ist, habe ich beinah vergessen, dass es noch zwei andere gibt. Irgendwo in diesem Haus gefangen, hinter verschlossenen Türen.
    Ehe ich reagieren kann, haben zwei Frauen mich schon an den Armen gepackt und zerren mich auf das Badezimmer zu, das an mein Zimmer grenzt.
    »Das Beste ist, du wehrst dich nicht«, sagt eine der beiden munter. Schwankend versuche ich, mit ihnen Schritt zu halten. Eine der Frauen bleibt zurück und macht mein Bett.
    Im Bad muss ich mich auf den Klodeckel setzen, der mit einer Art rosa Pelz bezogen ist. Alles ist rosa. Die Gardinen sind hauchdünn und unpraktisch.
    Zu Hause haben wir unsere Fenster nachts mit Sackleinen verhängt, um den Anschein von Armut zu erwecken
und die neugierigen Blicke der neuen Waisen abzuhalten, die Unterschlupf suchen und um Almosen betteln. Das Haus, das ich mit meinem Bruder geteilt habe, hatte drei Schlafzimmer, aber wir haben unsere Nächte lieber auf einem Feldbett im Keller verbracht und uns beim Schlafen abgewechselt, denn es hätte ja sein können, dass die Schlösser nicht hielten. Mit der Schrotflinte unseres Vaters schützten wir uns.
    Hübsche Rüschendinger haben an Fenstern nichts zu suchen. Jedenfalls nicht da, wo ich herkomme.
    Farben ohne Ende. Eine Frau lässt ein Bad ein, während die andere die Tür des Badeschränkchens zu einem Regenbogen kleiner Seifenstücke in Form von Herzen und Sternen öffnet. Einige davon wirft sie ins Badewasser. Da lösen sie sich sprudelnd auf und eine schaumige Schicht aus Rosa und Blau bleibt zurück. Bläschen zerplatzen wie kleine Feuerwerkskörper.
    Ich widerspreche nicht, als mir gesagt wird, ich solle in die Wanne steigen. Vor diesen Fremden nackt zu sein, ist zwar seltsam, aber das Wasser duftet gut und sieht einladend aus. Es hat so gar nichts mit dem trüben gelblichen Wasser gemein, das in dem Haus, das ich mit meinem Bruder teilte, aus den rostigen Leitungen lief.
    Teilte. Vergangenheit. Wie konnte ich nur so denken?
    Ich liege in dem süß duftenden Wasser und die Bläschen zerplatzen an meiner Haut. Sie setzen einen Hauch von Zimt und einem Potpourri frei – und den Duft echter Rosen, so wie ich ihn mir vorstelle. Aber ich will mich vom Wunder dieser kleinen Dinge nicht blenden lassen. Trotzig denke ich an das Haus, das ich mit meinem Bruder
teile, das Haus, in dem meine Mutter zu Beginn des neuen Jahrhunderts geboren wurde. Es hat Ziegelmauern, an denen immer noch die Reste des Efeus zu sehen sind, der schon vor langer Zeit eingegangen ist. Es hat eine Feuertreppe mit einer kaputten Leiter und in der Straße stehen alle Häuser so dicht nebeneinander, dass ich als Kind meine Arme aus dem Fenster meines Zimmers strecken und die Hände des kleinen Mädchens von nebenan halten konnte. Wir haben Pappbecher an den Enden einer Schnur über die Kluft zwischen den Häusern gespannt und kichernd miteinander geredet.
    Das kleine Mädchen ist früh Waise geworden. Ihre Eltern gehörten zur neuen Generation. Sie hat ihre Mutter kaum gekannt, ihr Vater wurde krank. Eines Morgens habe ich meinen Arm nach ihr ausgestreckt und sie war nicht mehr da.
    Ich war untröstlich, denn dieses Mädchen war meine erste richtige Freundin. Ich denke ab und zu immer noch an ihre strahlend blauen Augen, daran, wie sie Pfefferminzbonbons gegen mein Fenster geworfen hat, um mich zu einem Pappbechertelefonspiel aufzufordern. Als sie dann weg war, hat meine Mutter die Schnur aufgehoben, die wir für unser Telefonspiel benutzt haben, und sie hat mir erzählt, dass es Drachenschnur ist und dass sie als kleines Mädchen im Park Stunden damit verbracht hat, Drachen
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