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Totentöchter - Die dritte Generation

Totentöchter - Die dritte Generation

Titel: Totentöchter - Die dritte Generation
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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steigen zu lassen. Ich wollte mehr Geschichten aus ihrer Kindheit hören und an manchen Abenden hat sie mir welche erzählt. Geschichten von riesenhaften Spielzeuggeschäften und zugefrorenen Seen, auf denen sie auf Schlittschuhen schwanengleich Achten zog; von all den Menschen, die unter den Fenstern ebendieses
Hauses vorbeigegangen sind, als es noch jung und mit Efeu bewachsen war und als die Autos in ordentlichen, glänzenden Reihen am Straßenrand parkten in Manhattan, New York.
    Nachdem sie und mein Vater gestorben waren, haben mein Bruder und ich die Fenster mit Kartoffel- und Kaffeesäcken verhängt. Wir nahmen all die hübschen Sachen meiner Mutter und all die feinen Anzüge meines Vaters und stopften sie in Truhen, die wir abschlossen. Den Rest haben wir im Garten vergraben, spät nachts, unter den dahinsiechenden Lilien.
    Das ist meine Geschichte. Das ist meine Vergangenheit, und ich werde nicht zulassen, dass sie weggewaschen wird. Ich werde einen Weg finden, sie zurückzubekommen.
    »Sie hat so weiches Haar«, sagt eine der Frauen, die einen Becher warmes schaumiges Wasser nach dem anderen über meinen Kopf schöpft. »Und die Farbe ist auch hübsch. Ob das wohl Natur ist?«
    Natürlich ist es das. Was denn sonst?
    »Ich wette, das war es, was dem Hauswalter an ihr gefallen hat.«
    »Lass mich mal sehen«, sagt die andere Frau, nimmt mein Kinn in die Hand und dreht meinen Kopf ein wenig. Sie mustert mein Gesicht, dann keucht sie auf und ihre krampfhaft zuckende Hand fährt an ihr Herz »Oh, Helen, sieh dir die Augen von diesem Mädchen an!«
    Beide hören auf, mich zu baden, und sehen mich an. Zum ersten Mal sehen sie mich richtig an.
    Meine Augen sind normalerweise das Erste, was die Leute bemerken. Das linke Auge ist blau, das rechte
braun, genau wie bei meinem Bruder. Heterochromie. Meine Eltern waren Genetiker, und das war der Begriff, mit dem sie meinen Zustand bezeichneten. Vielleicht hätte ich sie eingehender dazu befragt, als ich älter war, wenn sich mir die Gelegenheit dazu geboten hätte. Ich dachte immer, die Heterochromie wäre ein bedeutungsloser genetischer Defekt, aber wenn die Frauen recht haben und es waren tatsächlich meine Augen, die dem Hauswalter aufgefallen sind, dann hat die Heterochromie mir das Leben gerettet.
    »Die sind doch wohl echt?«, fragt eine Frau.
    »Was sollen die denn sonst sein, wenn nicht echt?« Das sage ich dieses Mal laut und erst erschrecken sie, dann sind sie entzückt. Ihre Puppe hat eine Stimme. Und mit einem Mal überhäufen sie mich mit Fragen. Wo ich herkomme, ob ich weiß, wo ich bin, ob ich die Aussicht nicht hinreißend finde, ob ich Pferde mag – es gibt hier nämlich einen wunderschönen Stall – ob ich mein Haar lieber hochgesteckt oder offen trage.
    Ich beantworte keine. Ich will nichts mit diesen Fremden teilen, die zu diesem Ort gehören – so wohlmeinend sie auch sein mögen. Die Fragen prasseln auf mich ein, sodass ich ohnehin nicht wüsste, wo ich anfangen sollte, und dann klopft es leise an der Tür.
    »Wir machen sie bereit für den Hauswalter«, ruft eine der Frauen.
    Die gedämpfte Stimme auf der anderen Seite der Tür klingt weich, freundlich und jung. »Lady Rose möchte unverzüglich mit ihr sprechen, bitte.«
    »Wir sind noch nicht mal mit ihrem Bad fertig! Und ihre Nägel …«

    »Bitte entschuldigt«, sagt die Stimme auf der anderen Seite der Tür unbeirrt, »ich habe den direkten Befehl, sie jetzt zu holen, ganz gleich, in welchem Zustand sie sich auch befinden mag.«
    Lady Rose ist offenbar jemand, der hier das letzte Wort hat, denn plötzlich zerren mich die Frauen auf die Füße, trocknen mich mit einem rosa Badetuch ab, bürsten mir das nasse Haar und stecken mich in ein Gewand, das sich anfühlt wie Wellen aus Seide auf meiner Haut. Was auch immer in diesem Badewasser war, hat meine Nerven geschärft  – ich fühle mich nackt und entblößt. Und es kommt mir immer noch vor, als ob Bläschen an meiner Haut zerplatzten.
    Als die Tür sich öffnet, sehe ich, dass die Stimme einem kleinen Mädchen gehört, kaum halb so groß wie ich. Allerdings ist sie wie die älteren Frauen gekleidet, sie trägt die weibliche Ausführung von Gabriels weißem Hemd und einen schwarzen Rock anstelle von Gabriels schwarzer Hose. Ihr Haar ist zu einem Kranz um den Kopf geflochten, und wenn sie mich anlächelt, bekommt sie Apfelbäckchen. »Du bist Rhine?«
    Ich nicke.
    »Ich bin Deidre«, sagt sie und legt ihre Hand in meine. Sie ist kühl
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