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Totentöchter - Die dritte Generation

Totentöchter - Die dritte Generation

Titel: Totentöchter - Die dritte Generation
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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und zart. »Einfach hier entlang«, sagt sie, führt mich aus meinem Zimmer und den Flur entlang, über den ich gestern meine kurze Flucht angetreten habe.
    »So«, sagt das Mädchen mit ernsthaftem Nicken, den Blick weiterhin nach vorn gerichtet. »Sprich nur, wenn du angesprochen wirst; sie mag keine Fragen, am besten stellst du keine; sprich sie mit Lady Rose an; über dem Nachttisch ist ein Knopf, ein weißer – den drückst du,
wenn ihr schlecht wird. Sie bestimmt hier. Der Hauswalter tut alles, was sie verlangt, also stell dich gut mit ihr.«
    Wir bleiben vor der Tür stehen und Deidre bindet mir den Gürtel meines Bademantels noch mal zu einer perfekten Schleife. Sie klopft an die halb offene Tür und sagt: »Lady Rose? Ich habe sie geholt, wie Sie gesagt haben.«
    »Nun, dann lass sie eintreten«, blafft Rose. »Und dann geh und mach dich irgendwo nützlich.«
    Bevor sie sich zum Gehen wendet, legt Deidre ihre beiden Hände um meine eine. Ihre Augen sind rund wie zwei Monde. »Und bitte«, flüstert sie, »versuch das Thema Tod zu vermeiden.«
    Als sie weg ist, drücke ich die Tür auf und bleibe an der Schwelle stehen. Von hier aus kann ich die Medikamente riechen, über die Rose sich gestern beklagt hat. Ich sehe das Sortiment aus Lotionen, Pillen und Flaschen auf ihrem Nachttisch.
    Heute ist sie aufgestanden und sitzt in einem mit Satin bezogenen Diwan am Fenster. Die Sonne spielt mit ihrem blonden Haar und ihre Haut wirkt längst nicht so fahl wie gestern. Ihre Wangen haben Farbe. Zuerst denke ich, dass es ihr besser geht, aber als sie mich heranwinkt, fällt mir das ungewöhnliche, geradezu grelle Rosa ihrer Wangen auf – da weiß ich, dass es Schminke sein muss. Das Rot ihrer Lippen ist wohl auch nicht echt. Was jedoch echt ist, sind ihre Augen, unglaublich braune Augen, die mich mit einer Intensität, mit einer Jugendlichkeit anstarren …
    Ich versuche, mir eine Welt voller natürlicher Menschen
vorzustellen, in der zwanzig jugendlich war und Jahre entfernt von einem Todesurteil. Natürliche Menschen haben mindestens achtzig Jahre gelebt, hat meine Mutter mir erzählt. Manchmal hundert. Ich habe ihr nicht geglaubt.
    Jetzt sehe ich, was sie gemeint hat. Rose ist die erste Zwanzigjährige, mit der ich mich länger unterhalte, und obwohl sie ein Husten unterdrückt, bei dem Blut ihre Handfläche besprenkelt, ist ihre Haut glatt und weich. Ihr Gesicht strahlt immer noch. Sie sieht nicht viel anders oder älter aus als ich.
    »Setz dich«, sagt sie zu mir. Ihr gegenüber steht ein Stuhl.
    Auf dem Fußboden rings um sie herum liegen überall Bonbonpapierchen und eine Schale auf ihrem Diwan ist mit Bonbons gefüllt. Wenn sie spricht, kann ich sehen, dass ihre Zunge blau ist. Sie dreht ein Bonbon zwischen ihren langen Fingern, hält es nah an ihr Gesicht und sieht es an, als wolle sie es küssen. Stattdessen lässt sie es zurück in die Schale fallen.
    »Wo kommst du her?«, fragt sie. Ihre Stimme hat nichts mehr von der Verdrießlichkeit, mit der sie eben noch Deidre begegnet ist. Ihre dichten Wimpern zucken in Höhe. Sie beobachtet, wie ein Insekt sie umkreist und verschwindet.
    Ich will ihr nicht erzählen, wo ich herkomme. Ich soll bei ihr sitzen und höflich sein, aber wie kann ich das? Wie kann ich das tun? Man lässt mich hier sitzen und ihr beim Sterben zusehen, damit ich mich dann ihrem Mann hingebe und ihm Kinder gebäre, die ich niemals haben wollte!

    Ich sage also: »Woher kamst du, als sie dich geholt haben?«
    Ich soll ihr keine Fragen stellen, und sowie ich gefragt habe, wird mir klar, dass ich auf eine Landmine getreten bin. Sie wird nach Deidre oder ihrem Ehemann, dem Hauswalter, schreien, damit ich weggebracht und für die nächsten vier Jahre in ein Verlies gesperrt werde.
    Zu meiner Überraschung sagt sie nur: »Ich wurde in diesem Staat geboren. Genauer gesagt, in dieser Stadt.« Sie greift hinter sich, nimmt ein Bild von der Wand und hält es mir hin.
    Ich beuge mich vor und sehe es mir an. Das Foto zeigt ein junges Mädchen, das neben einem Pferd steht. Sie hält die Zügel, und ihr Lächeln ist so strahlend, dass ihre Zähne ihr Gesicht dominieren. Vor lauter Entzücken sind ihre Augen halb geschlossen. Neben ihr, mit den Händen auf dem Rücken, steht ein viel größerer Junge. Sein Lächeln ist beherrschter, eher schüchtern, als hätte er nicht die Absicht gehabt zu lächeln, konnte aber in diesem Moment einfach nicht anders.
    »Das war ich«, sagt Rose über das Mädchen auf
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