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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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TEIL 1
    Kapitel 1
    Geburtstage
    Der größte Teil dieser Geschichte trug sich zu, als Samuel knapp zwölf war und Theodora gerade dreizehn. Aber Geschichten können nur aufgrund all der Ereignisse stattfinden, die ihnen vorausgegangen sind, wie klein und zufällig diese Dinge auch gewesen sein mögen. Oder wie groß und wie schrecklich, und wie sehr ein Mensch sich auch wünschen mag, so zu leben, als wären sie nie geschehen. Sie sind geschehen, sind in ein Leben eingeschrieben, und deshalb sind die Dinge nun mal, wie sie sind.
    Samuel hatte seinen Geburtstag immer als etwas Besonderes betrachtet. So wie die meisten Menschen. Fast jeder kann davon eine Geschichte erzählen – ob man ein Frühchen oder überfällig war, in welchem Krankenhaus oder in welcher Stadt man geboren wurde, was Mutter oder Vater gesagt, getan oder unmittelbar nach der Geburt gegessen haben, was der Arzt oder die Hebamme meinten. Manche Leute schildern alles dermaßen genau, als könnten sie sich tatsächlich persönlich daran erinnern. Selbst Samuels Großvater wusste, wie warm es in jener Nacht gewesen war, in der er geboren wurde, und wie seine Mutter bei seinem ersten Atemzug den Mond zwischen dunklen Sommerwolken hatte herausdrängen sehen.
    Die Geschichten um seine eigene wie auch um die Geburt seiner Halbschwester Theodora setzte Samuel aus allem zusammen, was seine Eltern ihm dazu erzählten, was er zufällig mithörte oder was er selber mutmaßte. Jede Einzelheit daran erschien ihm außergewöhnlich.
    Samuel war das letzte Kind seines Vaters und das erste Kind seiner Mutter. Sein Vater, Elkanah, hatte bereits fünf Töchter, aber nur Theodora, die jüngste von ihnen, wohnte bei Samuel und dessen Eltern. Die anderen vier lebten bei Elkanahs erster Frau, Pearl.
    Als Theodora geboren wurde, war Samuels Vater schon mit Samuels Mutter Hannah verheiratet. Seine Trennung von Pearl war eigentlich längst vollzogen. Pearl lebte fast eintausend Kilometer von ihnen entfernt, in einer anderen Stadt, Melbourne.
    Als sie erfuhr, dass Pearl erneut schwanger war, brüllte Hannah und weinte und schlug um sich. Sie war eifersüchtig. Nicht nur, weil – schlimm genug – Samuels Vater sich offenbar intensiver um Pearl gekümmert hatte, als ihr lieb war. Nein, wirklich eifersüchtig machte sie der Gedanke, dass Pearl ein weiteres Baby bekam. Dazu muss man wissen, dass Hannah zu jenen Menschen gehörte, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein eigenes Kind, aber keines bekommen können. Dachten zu dieser Zeit jedenfalls alle.
    Samuels Vater, Elkanah, der bereits vier Töchter hatte, sah die Dinge anders als sie. Er war ein freundlicher, aber etwas einfältiger Mann. Er war Opernsänger – er hatte einen Auftritt gehabt, neunhundert Kilometer entfernt, als er bei Pearl und seinen Töchtern reingeschneit war, um zu sehen, wie sie ohne ihn zurechtkamen. Aus diesem Pflichtbesuch war Theodora hervorgegangen. Ein Kind mehr oder weniger, darauf kam es ihm nicht an, weshalb er fand, dass Hannah sich einfach bloß mit ihm freuen sollte.
    »Ich liebe dich, Hannah, ich verehre dich über alles«, versicherte er ihr wieder und wieder, spät nachts, wenn Hannah im Bett lag, wo sie verzweifelt ihren flachen Bauch musterte und sich fragte, ob irgendein Gift sie durchströmte, irgendein Grund dafür, dass kein Leben sich in ihr einnisten und heranwachsen wollte. »Ich liebe dich, Hannah. Ich brauche kein weiteres Kind. Ich brauche nur dich. Bin ich nicht genau so gut wie zehn Kinder?«
    Einfältiger Mann: Er glaubte, Hannah wollte ein Baby, um es ihm zu schenken. Aber Hannah wollte ein Baby ganz für sich allein.
    Als Pearl Theodora zur Welt brachte, zog Hannah sich ins Bett zurück. Sie fühlte sich kränklich. Sie legte sich hin, um ihren Körper auszuruhen. Hannah war sehr dünn. Das war sie nicht immer gewesen, aber mit jedem Tag, den sie auf ihr eigenes Baby gewartet hatte, hatte sie immer weniger gegessen.
    Elkanah flog hinunter nach Melbourne, um sich seine neue Tochter anzusehen. Auch diesmal hatte er dort einen Auftritt, passenderweise. Elkanah gehörte zu jenen Menschen, denen das Schicksal ständig solche Geschenke zu machen schien. Er sang in Der Liebestrank, einer Oper, in der es um ein magisches Elixier geht, das jeden auf der Stelle verliebt macht, der davon kostet.
    Aber er brauchte keinen Liebestrank, um sich in Theodora zu verlieben. Sie war wunderbar, rosig, flachshaarig. Elkanah war über alle Maßen glücklich, als er sie im Krankenhaus in
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