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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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»Alles meine Schuld.«
    Später am selben Tag besuchten ihn Elkanah und Theodora. Sie waren schon mehrfach gemeinsam mit Hannah da gewesen, aber Hannah war zu Elias gefahren, der sich daheim ausruhte. Theodora hatte ein Päckchen dabei, das in rotes und weißes Geschenkpapier eingeschlagen war.
    Elkanah umschlang seinen Sohn mit mächtigen Armen. »Du bist so blass!«, beschwerte er sich. »Wo ist dein ganzes Blut?«
    Theodora beugte sich herunter und gab ihm einen Kuss. »Hi!«
    Samuel lächelte. Er fühlte sich viel besser, was ebenso gut an den Medikamenten liegen konnte wie an irgendetwas sonst. Er wollte sich unbedingt mit Theodora unterhalten, doch das musste warten, bis sie alleine waren. Vielleicht konnte man Elkanah irgendwie dazu überreden, draußen Autogramme zu geben …
    Theodora saß im Besuchersessel. »Ich hab übrigens meine Klamotten zurückgekriegt«, sagte sie im Flüsterton. »Hannah hat sie mir gegeben.«
    Samuel warf seiner Halbschwester, seinem Beinahe-Zwilling, einen raschen Blick zu. »Du weißt, was Elias vorhatte?«
    Elkanah ging raus auf den Balkon und begann ein Gespräch mit einer der Krankenpflegerinnen.
    »Na ja, ich habe es mir gedacht.« Theodora sah ihn erwartungsvoll an. »Weil er auch meinen Reisepass mitgenommen hat.«
    Elkanah lachte bereits lautstark. Es dauerte nie lange bei ihm, bis er einen ersten Witz machte.
    »Das war eine schlaue Idee«, sagte Theodora. »Elias ist ganz schön schlau.«
    »Ja.«
    »Ich hab dein Geburtstagsgeschenk dabei«, sagte Theodora beinahe schüchtern. »Ich weiß, mit Verspätung.«
    »Danke!«
    Samuel nahm das Päckchen entgegen und knibbelte vorsichtig das Klebeband davon ab.
    »Weißt du schon, dass wir nicht nach Amerika umziehen?«
    Samuel nickte. »Du musst ziemlich enttäuscht sein«, wagte er einen behutsamen Vorstoß.
    »Dad hat sich alles ausgedacht!« Theodora war empört. »Das muss man sich mal vorstellen!«
    An den Zimmerdecken der Station waren altmodische Ventilatoren angebracht, wie in den Filmen über englische Kolonialisten in Indien. Samuel starrte zu den langen, breiten Blättern hinauf und fragte sich, ob sie im Sommer noch immer benutzt wurden. Oder gab es hier inzwischen Klimaanlagen?
    »Elias hat mir ein paar Sachen erzählt«, begann er, um dann gleich wieder innezuhalten.
    Theodora nickte. »Was denn?«
    Aber Samuel schien es sich plötzlich anders überlegt zu haben. Er richtete sich sehr gerade auf und sah seine Schwester stirnrunzelnd an.
    »Weißt du, als ich krank war, da ist was Komisches passiert.«
    Theodora seufzte. Ihrer Ansicht nach war Samuel immer noch krank. Zumindest wollte es ihm offenbar nicht gelingen, eine vernünftige Unterhaltung zu führen. Allerdings hatte er das eigentlich noch nie gekonnt.
    »Nun mach schon, pack dein Geschenk aus.«
    Samuel wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Päckchen zu und riss das Papier auf. Zwei Dinge befanden sich drin – ein schwarzer Kugelschreiber und ein fest eingebundenes Buch mit dem Foto von ein paar Kängurus darauf.
    »Oh«, sagte er.
    »Das ist ein ganz besonderes Tagebuch«, sagte Theodora eilig, bevor er fragen konnte. »Mit einer Seite für jeden Tag des Jahres.«
    »Oh.« Samuel spürte, wie ein mildes Interesse ihn erfüllte.
    »Du schreibst einfach irgendwas auf. Was du siehst, was du mitkriegst, was Leute erzählen. Wenigstens kannst du es versuchen. Du hast mal gesagt, dass du es gern mal versuchen würdest. Also, ich finde jedenfalls, dass es Spaß macht«, schloss sie säuerlich, weil Samuel das Geschenk immer noch in den Händen hielt wie ein Spielzeug, dem die Batterien ausgegangen waren.
    »Oh, Theo!« Samuel sah sie an. Seine Augen begannen zu strahlen. »Danke!«
    »Ist schon gut«, erwiderte Theodora, überrumpelt von dieser unerwarteten Begeisterung.
    Wie es aussah, würde es noch eine Weile dauern, bis Samuel wieder der Alte war.
    Kapitel 20
    Das erste Buch
    In dieser Nacht, als die Station im Dunkeln lag und alle anderen Kinder schliefen, saß Samuel aufrecht im Bett. Er knipste seine Nachttischlampe an. Die Nachtschwester hatte ihm nicht mehr als eine halbe Stunde erlaubt. Das war in Ordnung – eine halbe Stunde reichte aus, um einen Anfang zu setzen, und immerhin war es jetzt rundum still und er konnte in aller Ruhe nachdenken.
    Über das, was in dem Motelzimmer geschehen war. Er hatte laut seinen Namen rufen hören. Drei Mal hatte er es gehört, er konnte sich also nicht getäuscht haben. Jemand hatte seinen Namen gerufen –
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