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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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seinen muskulösen Armen. »Sie hat mich doch darum gebeten. Jedenfalls habe ich es ihr angeboten.«
    »Dann ist sie die Wahnsinnige!«, rief Hannah laut, oder beinahe laut, um das Baby nicht zu wecken. »Sie muss eine Wochenbettpsychose oder so was haben!«
    Hannah war Psychiaterin, von daher dachte sie automatisch in diese Richtung, und tatsächlich lag sie richtig. Pearl fühlte sich krank. Theodora war gerade drei Tage auf der Welt, da hatte sie ihren Gefühlen Ausdruck verliehen – schreiend. Die Mutter, nicht das Kind. Theodora gab keinen Muckser von sich. Der von Pearl verursachte Lärm hatte die anderen Mütter auf der Station verängstigt, die gehofft hatten, mit dem Schreien wäre es seit dem Kreißsaal getan. Pearl schrie und schrie und schubste das arme Neugeborene von sich. Pflegepersonal eilte herbei, Alarmknöpfe wurden gedrückt.
    Merkwürdigerweise schien Theodora von allen am wenigsten aufgeregt. Sie lag, offensichtlich völlig fasziniert von der Zimmerdecke, auf dem Rücken in ihrem durchsichtigen Bettchen. Dann wurde Pearl in ein anderes Krankenhaus verlegt, eines, in dem man sich um über die Maßen deprimierte Menschen wie Pearl ebenso kümmerte wie um über die Maßen glückliche Menschen.
    All das hätte Elkanah Hannah natürlich am Telefon berichten können. Aber ihm fehlte die eher weibliche Errungenschaft, seine Gedanken in elektrische Leitungen ergießen zu können. Er musste Hannah dabei ins Gesicht sehen. Er telefonierte ausschließlich, um Ankunfts- und Abreisedaten oder routinemäßige Liebesbekundungen durchzugeben.
    »Außerdem«, fügte er hinzu, nachdem er die Sachlage abschließend erklärt hatte, »hättest du es mir ausgeredet.«
    »Ich kann das einfach nicht glauben«, sagte Hannah. Was der Wahrheit entsprach. Sie konnte es wortwörtlich nicht glauben.
    Arme Pearl. Wie lang würde ihr Zustand anhalten? Und wie sollten sie sich um das Baby kümmern? Hannah konnte nicht einfach ihre Arbeit aufgeben.
    »Ich habe die kommenden sechs Wochen frei, Liebling«, sagte Elkanah ruhig. »Ich kann mich um sie kümmern. Bis dahin wird es Pearl sicherlich besser gehen und dann holt sie Theodora wieder zu sich. Oh, bist du nicht auch völlig verliebt in sie? Halt sie, halt sie mal, dann liebst du sie auch!«
    Hannah hielt sie – sie konnte nicht anders. Sie nahm die entwaffnend kleine und heiße, nahezu flüssige Kreatur in die Arme und beobachtete, wie die winzigen Nasenflügel, o so sanft, beim Ein- und Ausatmen erbebten. Das kleine Gesicht war rosig, die Wangen voller großer Kratzer; einzelne Haarsträhnen waren so fein, dass sie aussahen wie mit einem Bleistift aufgezeichnet. Hannah fühlte sich grob und klotzig angesichts dieser kleinen Person, als gehörte sie zu einer gänzlich anderen Spezies.
    Sie lehnte sich zurück, begann zu summen und wiegte Theodora sanft an ihrer Brust. Sie verliebte sich nicht sofort in sie, noch nicht. Das wäre zu viel verlangt gewesen, das Kind einer anderen Frau auf den ersten Blick zu lieben. Aber eine halbe Stunde später liebte sie sie mit abgrundtiefer Verzweiflung.
    Am nächsten Morgen rief Hannah ihren Vater an und erzählte ihm, was geschehen war.
    »Du machst Witze«, sagte er, nach einer Pause. »Hast du getrunken?«
    »Ach, Dad.« An diesem Morgen gab es nichts, was Hannah aufregen konnte. »Ich hab sie direkt bei mir, in meinen Armen.« Sie schaute nach unten in das schlafende entspannte Gesichtchen, musterte die gerade so erkennbaren gebogenen Wimpern.
    Hannahs Vater hielt seinen Schwiegersohn, allen Gegenbeweisen zum Trotz, insgeheim für einen Homosexuellen, und dieses neueste Projekt bestätigte ihn nur in seiner Annahme. Hannah hörte ihn am anderen Ende der Leitung tief einatmen.
    »Ach, Dad«, sagte sie noch einmal, aber sanfter, um das Baby nicht zu wecken.
    An diesem Nachmittag kam Hannahs Vater rüber, setzte sich in den Hinterhof und beobachtete, wie Elkanah, leise summend und Theodora in den Armen, im Haus herumtanzte. Elias hatte Hannah ein Geschenk gekauft – einen großen, schweren Fotoband über Indonesien im neunzehnten Jahrhundert –, aber Hannah beachtete das Buch kaum. Sie starrte immerzu das Baby an, sprach über das Baby und Babysachen – Windeln, Fläschchen, Flauschdecken. Hannahs Vater wirkte betrübt.
    »Willst du mit mir das Kazoo spielen?«, sang Elkanah und schwang dabei Theodora durch die Luft.
    »Und sobald Pearl sich, wovon man wohl ausgehen darf, erholt hat«, sagte Elias mit einem kurzen Hüsteln, »wird
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