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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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einer derart öffentlichen Zurschaustellung überdimensionierter und unwahrscheinlicher Emotionen sagen sollte – › es hat mir gefallen ‹ schien irgendwie unangemessen.
    Aber Elkanah sprang Hannah förmlich an, sobald sie zögerlich in die Tür trat, umarmte und küsste sie und zog seine Kinder fest an seine Seite, rufend und lachend, die eine Hand ausgestreckt nach einem Glas perlendem Mineralwasser, die andere nach grün marmorierten Käsewürfelchen. Theodora setzte sich auf den Fußboden, den Rücken gegen die Wand, Samuel neben sich. Normalerweise schlief er gegen ihre Schulter gelehnt ein, während sie das Menschenknäuel gründlich beobachtete und Notizen machte.
    Mit zwölf Jahren besaß Theodora einen gewaltigen Stapel an Notizbüchern, der sich dort in ihrem Garderobenschrank erhob, wo eigentlich ihre Schuhe hingehört hätten – die sie kurzerhand unters Bett ausgelagert hatte. Etwas anderes als der Garderobenschrank kam nicht infrage, denn es war der einzige Platz, den sie abschließen konnte, und ihre Notizen, so nichtssagend sie auch sein mochten, waren ihre Privatangelegenheit.
    So privat, dass sie, sobald sie dazu in der Lage war, sie zu verschlüsseln begann. Auch wenn es keine echte Verschlüsselung war – sie schrieb Englisch, benutzte aber die Buchstaben des hebräischen Alphabets, die sie in der Schule lernte. Sie fand heraus, dass ein berühmter General des Ersten Weltkriegs, Sir John Monash, als kleiner Junge genau dasselbe getan hatte, und es erschien ihr als ein genialer Kniff, um ein Geheimnis zu bewahren. Selbst jemandem, der das hebräische Alphabet beherrschte – und das waren, wie Theodora befriedigt feststellte, die wenigsten Menschen – bereitete diese Art des Lesens fürchterliche Kopfschmerzen.
    Samuel konnte das hebräische Alphabet lesen, schließlich gingen sie zur selben Schule, und Hebräisch gehörte zu den vielen, vielen Dingen, die sie dort lernten, so wie › Allouette ‹ auf der Blockflöte zu spielen oder Sonnenblumen in Eierkartons heranzuziehen. Aber Samuel hatte nicht vor, in Theodoras Notizbüchern herumzuschnüffeln. Hauptsächlich deshalb, weil er zu viel Angst davor hatte, was sie mit ihm anstellen würde, falls sie es herausfand. Und sie würde es herausfinden, Theodora war einfach so.
    Aber wie er Theodoras gestapelte Notizbücher bewunderte! Turm um Turm, wie aneinandergereihte Wolkenkratzer! Fiele ihm das Schreiben doch bloß so leicht wie ihr, der die Worte aus der Feder flossen wie Wein aus einem geöffneten Fass. Saß er selber mit einem Bleistift vor einem leeren Blatt Papier, kam er nie weiter als bis zu seinem Namen in der obersten Zeile. Theodora, deren Stifte niemals versiegten, verstand das nicht.
    »Du schreibst einfach auf, was du erlebst«, sagte sie ungeduldig. »So schwierig kann das doch nicht sein!«
    »Und wenn es nicht die Wahrheit ist?«, wandte Samuel ein.
    »Wie kann etwas, das du selber erlebst, nicht die Wahrheit sein?« Theodora schüttelte verärgert den Kopf. »Schreib einfach auf, was du siehst und was du hörst.«
    Als Neugeborenes sanftmütig, als Baby still, war aus Samuel ein wortkarges Kleinkind geworden und ein verschlossener kleiner Kindergartenbesucher. Er gehörte zu der Sorte von Kindern, die sehr langsam sprechen und sich nur selten zu jener Art von Gefühlsausbrüchen hinreißen lassen, die in wirbelnden Armen und Beinen und immer spitzer werdenden Schreien gipfeln. Wenn Samuel aufgebracht war, schluchzte er. Ein Schluchzen ist erblich, genau wie ein Lachen, und Samuel besaß das Schluchzen seiner Mutter.
    Fremde bedachte Samuel mit einem schüchternen Lächeln; in der Klasse saß er kerzengerade; seine Handschrift war nicht besonders ordentlich; er sammelte alte Busfahrkarten, nur um sie zuletzt alle fortzuwerfen. Als Schüler und Sportler lag er gut über dem Durchschnitt, er war Elfter seines Jahrgangs in Mathematik und wurde Fünfter beim Wettlauf anlässlich der alljährlichen Schulfeier.
    Elkanah empfand Samuels Zurückhaltung als einschüchternd. Er wusste nicht, was er mit ihm reden sollte, wenn sie allein miteinander waren, im Auto oder im Garten oder in der Schlange vorm Kino, wo sie sich Wiederaufführungen alter Filme der Marx Brothers anschauten, die sie beide stets ein wenig befremdeten. Sowieso fühlte Elkanah sich in weiblicher Gegenwart viel wohler – ein Phänomen, das Hannahs Vater sehr wohl registrierte und das er mit einem inneren Seufzen quittierte.
    Samuel wiederum fühlte sich
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