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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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tatsächlich auch war.
    »Hallo, Hannah«, sagte Pearl.
    »Wie geht es dir?«
    »Ach, ganz gut«, sagte Pearl. »Obwohl, eigentlich gar nicht gut.«
    »Meinen Glückwunsch«, brachte Hannah zustande, auch wenn sich dabei ihr leerer Magen hob.
    »Danke«, sagte Pearl unverbindlich.
    »Wie schwer war sie denn?«
    »Drei komma acht Kilo«, sagte Pearl müde. Ihr ganzer Körper schmerzte, in ihrem Kopf fanden sich keine Worte. Nun ja, immerhin einige. Unglücklicherweise die falschen. »Das nächste wird deines«, sagte Pearl. »Oder, Hannah?«
    Hannah knallte den Hörer auf, streckte sich auf dem Teppich im Flur aus und weinte. Nach einer Weile stand sie auf, zerrte den Staubsauger aus dem Schrank und reinigte das ganze Haus, von gefährlicher Rachsucht erfüllt.
    Später am selben Tag rief Hannah ihren Vater Elias an. Hannahs Mutter war an Brustkrebs gestorben, als Hannah achtzehn gewesen war. Ihr Vater hatte keine weiteren Kinder und hatte nie wieder geheiratet.
    »Pearl hat letzte Nacht ein kleines Mädchen zur Welt gebracht«, erzählte ihm Hannah.
    »Ah.« Hannahs Vater machte eine Pause. »Wie wollen sie die Kleine nennen?«
    »Theodora.«
    »Gottesgeschenk«, sagte ihr Vater sofort. Er war Arzt im Ruhestand und hatte Medizin zu einer Zeit studiert, als man noch glaubte, die Kenntnis klassischer Sprachen beeinflusse das therapeutische Können eines Menschen zum Besseren.
    »Wie geht es dir, Hannah?«
    »Ganz gut«, echote Hannah Pearls Worte. »Obwohl, eigentlich gar nicht gut.«
    »Isst du genug?«, fragte ihr Vater, der sich um den von Mal zu Mal weniger werdenden Körper seiner Tochter sorgte. Zum zweiten Mal an diesem Tag knallte Hannah den Hörer auf.
    Fünf Tage darauf, als sein Engagement an der Oper beendet war, kam Elkanah nach Hause. Er kam spät nachts an. Hannah hörte die Tür des Taxis zuschlagen und sah zu, wie die Scheinwerferkegel sich quer über die Zimmerdecke hinweg entfernten.
    »Hannah! Hannah!«, rief Elkanah. »Wo steckst du? Ich habe eine Überraschung für dich.«
    Hannah stiegen Tränen in die Augen. Elkanah brachte von jeder Reise Geschenke mit – Schmuck, Bücher, Likörflaschen. Sie drückte ihr Gesicht ins Kissen. Ein weiteres Geschenk würde sie nicht ertragen. »Ich will bloß ein Baby«, flüsterte sie sich selber zu.
    »Hannah!«
    Elkanah, sonst immer polternd, von Natur aus ein ebensolcher Türenschlager wie Bigamist, stieg mit ungewohnter Sanftheit die Treppen nach oben. Dort angekommen, schlug er den Weg zum Schlafzimmer ein. Warmer Wind fuhr durch das geöffnete Fenster, wie ein geisterhafter Besucher.
    »Hannah, Liebste, schau, was ich dir mitgebracht habe!«, flüsterte Elkanah, indem er sich neben ihr auf das Bett kniete und dabei ihre Schulter streifte.
    Hannah drehte sich zu ihm um und öffnete die Augen. Elkanah hielt ein blassgrünes Bündel in den Armen. Es raunzte, auf eine entfernte, feenhafte Art und Weise. Hannah blinzelte. Tief in ihrem Inneren spürte sie ihre Herzklappen erbeben.
    Elkanah hielt ihr das Bündel vors Gesicht. Hannah beugte sich darüber und starrte es an. Ihr Mund füllte sich mit dem Geschmack von warmem Honig. Was sie da in Elkanahs Armen sah, raubte ihr die Sprache.
    Theodora.
    Kapitel 2
    Von hier nach dort … und wieder zurück
    Hannahs erster Impuls, als sie Theodora sah, war, den Mund zu öffnen und zu schreien, beinahe wie Babys es tun, wenn ihre Augen sich öffnen und sie ein unbekanntes Gesicht vor sich sehen. Aber sie hielt den Atem an. Sie glaubte, verrückt geworden zu sein. Dann, dass Elkanah verrückt geworden war.
    »Was …«, stockte sie und setzte sich auf, eine Hand in die Bettdecke gekrallt.
    »Das ist Theodora«, sagte Elkanah, der das Kind über beide Ohren verliebt anlächelte. »Meine kleine Tochter.«
    Hannahs Kopf begann zu zittern. Das musste eine Illusion sein, ein Fehler.
    »Was tut sie hier?«, stöhnte sie leise. »Bist du wahnsinnig geworden?«
    »Schatz, schau sie doch bloß an«, drängte Elkanah, indem er Theodora direkt vor Hannahs Gesicht hielt. »Ist sie nicht anbetungswürdig?«
    »Was machst du, wenn sie aufwacht?«, wollte Hannah wissen. Sie wich entsetzt zurück. »Womit willst du sie füttern?«
    »Ach, ich hab jede Menge Flaschen voller Zeugs dabei«, gab Elkanah unbeirrt zurück. »Pearls Schwester hat mir einen Vorrat eingepackt.«
    »Pearls Schwester«, wiederholte Hannah. »Weiß Pearl, dass du es mitgenommen hast? Ihr das Baby weggenommen hast?«
    »Aber sicher.« Elkanah wiegte das Baby in
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