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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde
Autoren: Oliver Adam
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I NACHSAISON
    DAS KLASSENZIMMER LEERTE sich allmählich, die Kinder ließen ihre Ausmalbilder liegen, standen von ihren Stühlchen auf und stürzten sich in die Arme ihrer Eltern, wohlwollend beobachtet von der Lehrerin, einer schüchternen, zarten jungen Frau, der ich fast drei Monate lang nichts vorzuwerfen gehabt hatte. Manon hatte ihr zum Abschied einen Kuss auf die Lippen gedrückt, und sie hatte nicht mit der Wimper gezuckt, mit glänzenden Augen hatte sie uns alles Gute gewünscht: Sie beneidete darum, dass wir an die Küste zögen. Ich fand Manon am anderen Ende des Raums, wo sie zwischen Kaufladenauslagen mit Plastikgemüse Hannah umschlang, die beiden klammerten sich aneinander, hatten Angst vor der Trennung. Hannah war ein blässliches Mädchen, und ich wusste von ihr nicht einmal, ob sie sprechen konnte. Sie war zwei- oder dreimal bei uns gewesen, die beiden hatten den ganzen Nachmittag gespielt, versteckt unter der Tamariske, deren Zweige sich so tief herabbogen, dass sie eine Hütte bildeten, ich bekam sie nur zu Gesicht, wenn ich ihnen ein Glas Milch ein Stück Brot einen Riegel Schokolade brachte, und damit saßen sie dann an dem verrosteten Eisentisch, von dem die weiße Farbe abblätterte. Manchmal hatte die kleine Hannah zum Hochhaus B von Les Bosquets hinaufgeblickt, dort wohnte sie, und diese umgekehrte Perspektive muss ihr sonderbar vorgekommen sein, von ihrem Zimmer aus konnte sie uns im Garten sehen, aber das war so selten geworden, die Sommernächte, die Musik die Girlande im alten Kirschbaum der Rauch des Holzkohlegrills, das Bier und die Nachbarn, die aufkreuzten, das lag so weit zurück, in letzter Zeit machte ich mir nicht einmal mehr die Mühe, die Fenster-läden zu öffnen, und alles verwahrloste.
    Wir verließen die Schule, es war noch nicht fünf, und schon wurde der Himmel im Osten dunkel. Auf der anderen Seite der Bahngleise kletterte die Straße dem von Mietskasernen versperrten Horizont entgegen. Das Haus mit dem rissigen Verputz bildete ihr Ende und schien zufällig da hingestellt worden zu sein, danach kamen nur noch eintönige Blocks, die sich bis zur Autobahn endlos aneinanderreihten. Manon ging langsam, widerwillig, ihr war bange vor dem, was folgen sollte. Ein Umzugslaster mit weit geöffneten Türen bestätigte ihre Befürchtungen. Die meisten unserer Möbel stapelten sich darin, von den Kartons nur knapp verborgen. Der Kleinen entfuhr ein Schrei. Ich nahm sie an der Hand und führte sie ins Haus. Alles war leer und abgewohnt, von unserem Leben waren nur wenige Spuren geblieben. An den vergilbten Wänden hatten die Bilderrahmen ihren Abdruck hinterlassen, weiße Rechtecke in verschiedenen Größen, von den Jahren, vom Tabak, vom Staub braun gewordene Umrisse. Vor fünf Jahren waren wir hier eingezogen, Clément war durch die frisch gestrichenen Zimmer gerannt. Sarah, mit dickem Bauch unter ihrem apfelgrünen Kleid, ein Heft in der Hand, hatte Maß genommen, die künftige Einrichtung geplant. Ich hatte ihr Haar hochgehoben und an ihrem Nacken geknabbert. Manon ging bis in die Mitte des Wohnzimmers, Boden Decke vier Wände und sonst nichts. Ich legte ihr die Hand auf die Schulter.
    »Geht’s, mein Engel?«
    Sie antwortete nicht, steif und kreidebleich betrachtete sie die Katastrophe. In der Garage hörte man die Männer poltern, ab und zu fiel etwas mit Getöse zu Boden, dann folgten Flüche. Als sie sich zitternd zu mir umdrehte, hatte sie Tränen in den Augen. Ich nahm sie in den Arm. Das war das Einzige, was ich tun konnte. Ich fand keine Worte, mir blieben nur Gesten. Sie schmiegte ihr Gesicht an meinen Hals und fing laut zu weinen an.
    »Ich will nicht. Ich will nicht.«
    »Was willst du nicht, mein Engel?«
    »Von hier weg. Wenn wir weggehen, kann Mama uns nicht finden, dann kann sie nicht zurückkommen.«
    Statt einer Antwort zog ich sie noch fester an mich, ich hatte ihr nichts Besseres zu bieten, kein stichhaltiges Argument. Ihre Tränen liefen mir in den Halsausschnitt und benetzten mein Hemd. Draußen hatte die Nacht die Welt verhüllt, nur verschwommene Lichter, helle Streifen, Schatten und schimmernde Reflexe waren von ihr noch übrig. Mit nassem Gesicht und verrotztem Mund schlief Manon ein; so endete es immer: in der feuchtwarmen Erschöpfung des Kummers.
    Ich bettete sie auf eine Decke, die ich auf dem Boden ausbreitete. Die Wangen hochrot, das Haar in die Stirn geklebt, rollte sie sich grummelnd zusammen. Sie war noch so klein. Manchmal vergaß ich das fast.
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