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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde
Autoren: Oliver Adam
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Auf Knien küsste ich ihre fiebrige Stirn und ihren winzigen Mund. Ich legte mich neben sie. Sie kuschelte sich an meinen Bauch. Der Steinfußboden war glatt und eiskalt, Sarah hatte ihn gehasst und ihn vollkommen zugedeckt mit Teppichen, die sich überlappten und kein Stückchen mehr frei ließen. Hinter mir hustete es. Die Möbelpacker standen verlegen nebeneinander und beobachteten uns. Ich erhob mich so behutsam wie möglich, um Manon nicht zu wecken.
    »Für die Kinder ist es nicht immer leicht«, meinte der Größere.
    Er schien ehrlich betroffen und sah die Kleine mitleidig an. Mit gedämpfter Stimme sagte er, sie seien startbereit, nur die Fahrräder müssten noch eingeladen werden. Ich konnte es kaum glauben. Möbel abbauen, Kisten packen, Garage leerräumen, Waschmaschine Sofa Kühlschrank, für all das hatten sie keine vier Stunden gebraucht. Ich bedankte mich und wünschte ihnen gute Fahrt, auch ich würde bald aufbrechen, man würde sich bestimmt auf der Autobahn wiedersehen. Sie gingen auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, dann knirschten ihre Schritte auf dem hellen Kies im Hof. Ein oder zwei Minuten lang brummte der Motor, bevor sich das Geräusch im abendlichen Rauschen auflöste.
    Kurz danach kam Clément, mit verschlossenem Gesicht, die Hände in den Taschen. Ich hatte keine Ahnung, was er die ganze Zeit draußen getrieben hatte, seit September holte ich ihn nicht mehr von der Schule ab, und meistens tauchte er erst gegen sechs Uhr auf, goss sich ein großes Glas Cola ein, nahm sich ein paar Kekse und verschwand in sein Zimmer. Ich stellte mir vor, dass er am Flussufer herumlungerte, mit Kieselsteinen kickte oder versuchte, sie auf dem Wasser hüpfen zu lassen, und mit verlorenem Blick in die trübe Flut starrte. Ihm gefiel es dort. Jedes Wochenende mussten wir am Fuß entlangradeln, der Weg wurde hinter der Baumreihe enger, fiel leicht ab, und die Erde vermischte sich mit Sand, ein Miniaturstrand, zwei Schritte von den Autos entfernt. Auf der anderen Seite, hinter den Wohnblöcken, überragte das Krankenhaus die Stadt, und er ließ es nicht aus den Augen, als könnte seine Mutter noch dort sein.
    Er machte einen Rundgang durch die Zimmer, drückte seine Nase ans Fenster und warf einen Blick auf die Brennnesseln, die Pilze, den von Vogelmiere durchsetzten gelben Rasen. Im Schein der Straßenlampen sah alles geschniegelt und gestriegelt aus, aber am Tag war der Garten nur noch ein ödes Stück Brachland. Auf seine stumme und konzentrierte Art verabschiedete sich Clément von dem einzigen Haus, an das er sich erinnern konnte. Aber er versuchte, auch allem anderen Lebwohl zu sagen.
    »Schaffst du es?«, fragte ich.
    Er atmete tief ein und versuchte zu lächeln, es war niederschmetternd, wie er sich zwingen musste, er glich so sehr seiner Mutter, genau wie sie bemühte er sich, niemandem zur Last zu fallen, dachte nie an sich selbst, sondern sorgte sich nur um die andern, verbarg den eigenen Schmerz, um mich nicht zu beunruhigen. Wie abwesend zog er seine Jacke aus und ließ sie zu Boden gleiten, dann legte er sich neben seine Schwester, die Hände flach auf dem weißen Sandstein, die Augen zur Decke gerichtet, wo nur noch eine Glühbirne hing. Mit ihren verwuschelten Haaren, den vom Körper abgespreizten Armen und den Händen, die sich berührten, bildeten sie beinahe einen Stern. Ich legte mich dazu und schloss den Kreis.

Die Scheibenwischer wischten nicht besonders gut, und ganze Teile der Windschutzscheibe blieben trüb. Manon schlief, halb über ihren Bruder gesunken. Ich stellte Johnny Cash an, und seine Stimme verschmolz mit dem Motorgeräusch und dem Zischen der Reifen auf dem nassen Asphalt.
    »Hast du dich von deinen Freunden verabschieden können?«
    »Ja.«
    »Hast du ihnen die neue Adresse gegeben?«
    »Ja, ja.«
    »Hast du ihnen auch gesagt, dass sie im Sommer kommen können …«
    Clément starrte auf die Straße und antwortete zerstreut, im Rückspiegel sah ich, wie er seine Schwester behutsam beiseiteschob und seinen Gameboy aus der Jackentasche zog, seine Finger bewegten sich auf den Tasten. Die Straße war fast leer, nur Lastwagen fuhren schwer durch die Nacht. Mein Blick blieb einen Moment an Cléments Gesicht hängen. Ohne dass ich es bemerkt hatte, war er plötzlich groß geworden und behielt immer diesen glatten, ernsten Ausdruck eines verschlossenen Jungen, der ihn noch älter machte. Verschlossen, rätselhaft und spöttisch, wie ihn mir einmal seine Lehrerin beschrieben hatte, eine
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