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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde
Autoren: Oliver Adam
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Schloss, wo nicht das kleinste Boskett, nicht die kleinste Blume, nicht das kleinste Licht fehlte, die der Größe nach aufgereihten Plüschtiere, die Puppen, die um den Puppentisch saßen, bereit, einen Darjeelingtee und winzige Plastikkuchen miteinander zu teilen. Bald waren nur noch die Barbies übrig, Clément glättete ihnen das Haar und zog die Kleider zurecht, bevor er sie mir gab, ich setzte sie sorgfältig auf die Kommode, ein Möbelstück, das Sarah als Kind gehört hatte und das wegzuwerfen ich mich nicht hatte entschließen können: Ich brauchte nur die Augen zu schließen und sah sie vor mir, wie sie sich im Garten daran zu schaffen machte, sie trug die gestreifte Latzhose, die ich hasste, und hatte die Kommode bereits zwei Mal abgebeizt und neu gestrichen, blau und weiß für Clément, fünf Jahre später dann rosa und grün, in meinem Kopf lief all das ab wie ein Super-8-Film ohne Ton mit Lichtlöchern und angesengten Ecken, alles kam mir mit blitzartiger Geschwindigkeit wieder in Erinnerung, der süße Duft der Blumen und des getrockneten Grases, sogar den Sommerwind, der uns damals liebkoste, konnte ich spüren, die brennende Sonne und die drückende Luft, die allmählich frischer wurde, die Kühle des Biers, das wir uns in der lauen Abendluft genehmigten, während an der Front der Hochhäuser die Lichter angingen, im nächsten Augenblick fing das Filmmaterial Feuer, Sarah schmolz dahin, bis sie ganz verschwunden war, und Manon fing an, nach ihrer Mama zu schreien. Ich sah Clément an, er war verstört, ohnmächtig verzog er das Gesicht. Ich hätte gern etwas für ihn getan, aber ich konnte nichts tun, ich stürzte in mein Zimmer; Manon saß verrotzt und mit hochrotem Gesicht mitten auf dem Bett und rang nach Luft. Als sie mich sah, wurde es noch schlimmer. Ich will nicht Papa ich will Mama ich will Mama ich will Mama, heulte sie immer wieder. Ich wusste, wie es enden würde. Ich nahm sie in die Arme und legte das Ohr auf ihre Brust. Da konnte sie sich noch so sehr wehren und mich in den Bauch treten, mir das Gesicht zerkratzen und mich an den Haaren ziehen, ich bewegte mich keinen Zentimeter. Lange brauchte ich nicht zu horchen. Ich rannte die Treppe hinunter, Wohnzimmer Küche Garage, Schränke Garderobe Kommode Schubladen, alles durchsuchte ich. Die Kleine bearbeitete mich mit ihren Fäusten, ihr Atem wurde zusehends schwächer, ihre Lungen pfiffen und rasselten, die Luft ging ihr aus, ich spürte es, konnte mir vorstellen, wie es in ihr brannte. Ihr verdammter bonbonrosa Rucksack blieb unauffindbar. Mit dem Fuß stieß ich gegen den Medikamentenkarton und rief nach Clément, damit er ihn öffnete, er leerte den Inhalt auf den Teppich, und wir wühlten darin herum, wie ein Irrer riss Clément die Schachteln auf und warf die leeren Verpackungen in alle Richtungen, es hätte ja sein können, dass sich ein Spray in einer Aspirin- oder Alka-Seltzer-Schachtel versteckte. Wir hatten das Unterste zuoberst gekehrt. Wir mussten den Tatsachen ins Auge sehen. Das beschissene Salbutamol hatte sich verflüchtigt.
    Ohne Jacke und Mantel lief ich mit Manon hinaus. Zu Clément sagte ich, er solle keine Angst haben, wir seien in einer Minute zurück, ich würde eine Lösung finden, er solle sich keine Sorgen machen; blass und beherrscht spielte er den großen Jungen, und ich fragte mich, wann diese schöne Fassade zusammenbrechen würde. Ich lief die Straße hinunter bis zur Kreuzung, links stieg der von Bäumen und Villen mit gepflegten Gärten gesäumte Boulevard hinauf in den Ort, rechts wurde er schmaler und führte zum Strand. Der kleine Imbiss mit seiner Terrasse die Fish-and-Chips-Bude das Hotel und die Bar mit den großen Panoramafenstern, die auf den Sand hinausgingen, nichts hatte sich seit meiner Kindheit verändert. Manon jammerte heiser, es gehe ihr so schlecht. Ich betrat die erste Apotheke, ein winziger altmodischer Laden, in dem sich fünf oder sechs dauergewellte Alte drängten. Einige saßen, andere stützten sich auf ihren Stock, die Schaufenster waren vollgepfropft mit Reklame für Stützstrümpfe, die Welt war hundert Jahre älter geworden. Ich stürzte zum Ladentisch und verlangte Salbutamolspray. Die Apothekerin, eine etwas verkniffene Rothaarige, bat mich höflich zu warten, bis ich an die Reihe käme.
    »Ich habe keine Zeit«, sagte ich und wies auf die Kleine. »Sie erstickt, das sehen Sie doch.«
    In meinen Armen schnappte Manon nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, jeder ihrer
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