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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde
Autoren: Oliver Adam
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ringsum. Oft läutete er bei uns, meine Mutter bot ihm Kaffee an, aber er hatte nie Zeit, er kam nur, um uns Plastiksäcke mit altem Krempel zu bringen, der Alex und mich begeisterte: rostige Roboter, zerbeulte Autos, eine Sammlung von staubig riechenden, aufgequollenen Comic-Heften. Mama schaute uns kopfschüttelnd zu. Dafür ruiniert man sich zu Weihnachten und an den Geburtstagen, sagte sie, bevor sie wieder in der Küche verschwand.
    »Ich hoffe, es wird Ihnen hier gefallen«, sagte der Große.
    »Ich auch«, erwiderte ich ausweichend, und er ließ endlich meine Hand los. Sein langer magerer Körper beugte sich hinunter, um den Werkzeugkasten aufzuheben. Der Kerl war klapperdürr, und doch hatte er zwei Tage lang meine Möbel und Umzugskartons getragen, ohne eine Spur von Müdigkeit zu zeigen. Ich warf einen Blick auf den leeren Wagen, ein blitzsauberer Transporter von schönem Austerngrau, er musste ihn über Nacht hier geparkt haben, in der Sackgasse, vor dem unsichtbaren Meer, ich stellte ihn mir auf seiner engen Pritsche vor, wie er keinen Schlaf fand und mit offenen Augen seine Gauloises paffte. Am Vortag im Haus, während der Pause, hatte er mir, auf den Garten und die Wohnblocks starrend, die sommers wie winters einen flaschengrünen Schatten auf uns warfen, mit melancholischem Gesicht anvertraut, seine Exfrau lebe auch in Saint-Malo, mit dem gemeinsamen Sohn und ihrem neuen Lebensgefährten, der im Gewerbegebiet die Honda-Vertretung hätte. Seinen Jungen sähe er nie, bei seinem Job, ich wüsste gar nicht, was für ein Glück ich hätte, dass meine Kinder bei mir seien, hatte er gesagt, und seine Augen waren feucht geworden, aber das kam sicher nur vom Staub oder Rauch oder wegen einer Wimper.
    Sein Kollege verabschiedete sich ebenfalls, er war viel kleiner, kompakter, ein Körper wie ein Leguan. An einem Vormittag hatte er zwei Kannen Kaffee geleert. Er arbeitete schweigend, konzentriert und hob die Kartons hoch, als wären sie mit Federn gefüllt. Nichts schien schwer zu sein für ihn. Jedenfalls nichts Konkretes. Mit dem Kinn wies er in den Raum. Die Sonne schien auf die Möbel. Man hätte meinen können, sie stünden immer schon da.
    »Das gibt noch ganz schön viel Arbeit.«
    Ich nickte, aber eigentlich war nicht mehr viel zu tun, ich hatte nur das Allernötigste mitgenommen, das Geschirr, die Kleider, die Spielsachen der Kinder. Alles Übrige war irgendwo weit weg, verkauft, weggeworfen oder an die Nachbarn verschenkt. Das Haus war wie ein neuer, gedächtnisloser Ort. So hätte ich mir mein Gehirn gewünscht: weiße Wände, helle Böden und Decken, Fenster, durch die ein gläsernes Licht fiel.
    Beim Hinausgehen warfen sie einen Blick in die Sackgasse. Sie endete hoch über dem Meer. Eine Treppe senkte sich steil in die Felsen, sechsundsiebzig Stufen führten zum Strand. Vor uns lag nichts als eine unendlich abwechslungsreiche Szenerie aus Himmel und Wasser, Granit und Sand, den Gezeiten, dem Wind, dem Regen und den Vögeln überlassen. Der Kleinere fragte mich, ob das da hinten der Atlantik sei. Ich nickte, ich verbesserte ihn nicht, irgendwie wollte ich selbst lieber denken, dass hier nicht mehr der Ärmelkanal, sondern schon der Ozean war.
    »Das ist doch verrückt«, meinte er. »Wir haben hier geschlafen und es nicht mal gemerkt. Aber stimmt, heute Morgen waren verdammt viele Möwen da. Können wir mal hingehen?«
    »Natürlich.«
    Wir gingen die Straße entlang, und bei jedem Schritt verschluckte das Blau ein wenig mehr von der Landschaft. Die Häuser verschwanden, um den Wellen und dem Himmel Platz zu machen, das Rauschen des Verkehrs wurde allmählich schwächer, schließlich war alles von der Brandung erfüllt. Ich spürte, wie meine Lungen sich öffneten und mein Gehirn im Schädel wieder seinen Platz fand. Ich erinnere mich, dass ich das undeutliche Gefühl hatte, endlich nach Hause gekommen zu sein. Wir setzten uns auf eine Bank, der Wind blies durch uns hindurch, und unter unseren Füßen fiel das mit Flechten, Strandfenchel und Goldlack überwucherte Kliff hinab auf den Sand.
    »Verdammt, ist das schön«, sagte der Große.
    Das Meer war ruhig und weit draußen, von zartem, eisigem Blau, in der Ferne tauchten schwarze Inselchen auf, und der Strand dehnte sich mehrere hundert Meter weit aus, seidig und golden, vom Wasser geriffelt und von geheimnisvollen Sandrinnsalen durchzogen. Wir rauchten schweigend, versunken in den Horizont.
    Der Große schloss die Hecktür, während der Kleine
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