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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde
Autoren: Oliver Adam
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pfeifenden Atemzüge war eine Qual für sie. Die Rothaarige musterte sie mit kaltem Blick und fragte mich, ob ich ein Rezept hätte. Ich zuckte mit den Schultern. Das schien sie nicht zufriedenzustellen.
    »In dem Fall kann ich nichts für Sie tun«, beschied sie mich und wandte sich der nächsten Kundin zu.
    »Warten Sie doch, sie hat einen Anfall …«
    »Es tut mir wirklich leid, aber ohne Rezept kann ich nichts für Sie tun, das wissen Sie so gut wie ich. Außerdem, wenn Ihre Tochter wirklich Asthmatikerin ist, sollten Sie ihr Spray immer dabeihaben.«
    »Was soll das heißen, wenn sie wirklich Asthmatikerin ist? Wollen Sie mich verarschen? Her mit dem Spray, verdammt!«
    »Monsieur, ich …«
    Ich ließ sie nicht ausreden, ich rannte einfach ins Lager und irrte suchend zwischen den Metallschränken herum, ein beschissenes Labyrinth von Schubfächern. Hinter mir wurden Stimmen laut, die mir befahlen herauszukommen, drohten, die Polizei zu rufen. Schließlich stieß ich auf ein Dutzend Salbutamol-Packungen. Ich nahm zwei davon, warf einen Zwanzigeuroschein auf den Ladentisch und suchte das Weite. Die Apothekerin bebte vor Zorn, und die Omis fragten sich, wo das noch enden sollte. Auf dem Bürgersteig verabreichte ich Manon eine vierfache Dosis des Medikaments und trug sie bis ans Meer. Wir setzten uns auf eine Bank und wiederholten die Prozedur. Die Luft war schneidend kalt, aber ich spürte nichts und sie auch nicht, glaube ich. Auf meinem Arm wurde ihr Atem wieder ruhig, und sie beteuerte, sie habe mich lieb, ich sei ihr Papa und sie wolle keinen anderen. Vor uns erstreckte sich der feuchte Sand, ein riesiger Spiegel, in dem die Wolken kopfüber vorbeizogen. Das alles kam mir so vertraut vor. Die Jogger, die Kinder mit ihren Bällen, die nassen Hunde. Zwei knallbunte Drachen durchschnitten die eiskalte Luft, die Möwen schienen sie zu verfolgen. Es war, als hätte ich diesen Ort nie verlassen. Im Wasser lagen Jugendliche, schwarz umhüllt, auf ihren Surfbrettern und warteten auf die letzten Wellen vor der Dunkelheit, Spinnen auf einer Pfütze flüssigen Silbers.
    »Weißt du, als ich so alt war wie du, hab ich hier gewohnt«, sagte ich zu Manon.
    »Als du vier warst?«
    »Ja, und sechs und zwölf und achtzehn.«
    »Hast du mit deinem Papa und deiner Mama hier gewohnt?«
    Ich nickte, die sinkende Sonne zwang mich, ein Auge zuzukneifen.
    »Wo sind die, dein Papa und deine Mama?«
    »Fortgegangen«, sagte ich.
    »Fortgegangen, wie Mama?«, fragte sie.
    »Nein. Nicht wie Mama. Für immer fortgegangen, weißt du.«
    »Wie die Mama in Bambi ?«
    »Genau, wie die Mama in Bambi . Komm wir gehen. Sonst erkältest du dich.«
    Wir kehrten durch die Felsen zurück, den Blick auf die Landzunge gerichtet, die orangerote Sonne im Rücken. Unter unseren Füßen knackten die Muschelschalen, und unsere Socken saugten sich mit dem eisigen Wasser voll. Wir redeten über alles und nichts, über die Burgen, die wir am Strand bauen wollten, das Baden im Sommer, die Blumen, die im Garten wachsen sollten, und über die Schaukel, in ein paar Tagen würden wir sie kaufen, eine aus hellem Holz würden wir aussuchen, mit einer grünen Rutsche; Manons Augen begannen zu leuchten. Ich trug sie die Stufen hinauf, in der Sackgasse reihten sich die Häuser mit ihren geschlossenen Fensterläden aneinander, im Frühjahr würde man sie öffnen, an Ostern oder Himmelfahrt, nach hinten hinaus ahnte man Gärten mit hohem Gras, und die Briefkästen liefen über von feuchten Werbesendungen, im Nieselregen aufgequollenen Prospekten, die aneinanderklebten, unentzifferbar.
    Als wir zurückkamen, hatte Clément das Zimmer seiner Schwester fertig eingerichtet, alles war perfekt bis in die kleinsten Details, die Poster hingen an der Wand, und ich fragte mich, wie er sie in dieser Höhe anbringen und so geschickt hatte anordnen können, auch die Bilder waren aufgehängt, die Schachtel mit den Nägeln und der Hammer lagen auf der Kommode.
    Die Kinder nahmen ihr Bad, während ich das Essen zubereitete, ich genehmigte mir meine ersten beiden Whiskys, und wir aßen auf dem Sofa, über den niedrigen Tisch und unsere Spaghetti bolognese gebeugt, die Augen auf den Bildschirm gerichtet, wo zum tausendsten Mal Buzz Lightyear merkte, dass er nur ein Spielzeug war. Clément schlief vor dem Ende ein, eine angebissene Banane in der rechten Hand. Ich trug ihn in sein Bett. In seinem türkisblauen Schlafanzug und mit den feuchten, nach hinten gestrichenen Haaren war er
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