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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde
Autoren: Oliver Adam
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Statuen geworden waren. Die ganze Stadt hielt den Atem an, bevor es weiterging.

Die Vorschule war direkt neben der Grundschule, die beiden Höfe grenzten aneinander, Manon konnte ihren Bruder sehen und ihm in der Pause zuwinken, es beruhigte mich, mir die beiden so vorzustellen, getrennt, aber solidarisch, stets um einander besorgt, ohne dass man genau wusste, wer auf wen aufpasste. Clément wollte nicht, dass ich ihn begleitete, ich fragte ihn, ob er wirklich sicher sei, aber er machte sich nicht die Mühe zu antworten, ich sah zu, wie er, von seinem Schulranzen fast erdrückt, mit dem Gang eines Miniaturcowboys auf sein Klassenzimmer zustrebte. Vor der Tür lächelte ihm eine Frau mit langem schwarzem Haar entgegen, sie wechselten ein paar Worte, dann drehte Clément sich um und zeigte mit dem Finger auf mich, sie nickte, und ich meinte zu sehen, dass sich ihr Gesicht verzog. Das fing nicht gut an. Sein Kind am ersten Schultag zu begleiten und sich seiner Lehrerin vorzustellen, war vermutlich das mindeste, was man tun sollte, tat man es nicht, wurde man sofort in den Rang der verantwortungslosen Väter verwiesen.
    Manons neues Klassenzimmer glich dem alten: Die Wände, die Möbel, alles war in Apfelrot und Himbeerrosa gehalten. Madame Désiles erwartete uns schon. Sie war eine energische Frau mit unglaublichen Kleidern, übersät mit Taschen, Reißverschlüssen und schwarzen Schnüren, deren Funktion mir unklar blieb.
    »Ah, da ist ja Manon …«
    Die Kleine schmiegte sich an meine Beine wie ein verängstigtes Tier, ich spürte, wie sich ihre Hand in meine schob und meine Finger drückte. Madame Désiles warf ihr ein gezwungenes Lächeln zu, sie wirkte fast enttäuscht. Wir betraten das Klassenzimmer, wo nach uralter Regel die Mädchen sich geschäftig um eine Küche aus hellem Holz scharten, während die Jungen sich um die Autos stritten, die zu geheimnisvollen Reparaturen in die Werkstatt gebracht werden mussten. Eigentlich war alles in Ordnung, wir würden das nie wirklich ändern.
    »Und die Mutter des Kindes?«
    »Sie ist nicht bei uns.«
    »Ist sie in Paris geblieben?«
    »Ja. Vielmehr nein.«
    »Leben Sie vielleicht getrennt …«
    Ich fand keine Antwort, ich stand mit hängenden Armen da und sah sie an, ich muss ausgesehen haben wie ein Karpfen oder eine Schildkröte. Ich wäre gern auf der Stelle umgekehrt oder verschwunden.
    »Ich meine, wenn Sie geschieden sind, ist es besser, ich weiß es. Vor allem, wenn es noch nicht lange her ist. Solche Situationen haben immer Auswirkungen auf die Kinder, deshalb ist es besser, wenn man informiert ist. Dann ist man … wachsamer.«
    Ich hatte Ameisen in den Beinen, ich spürte, wie sie hinauf in meine Schenkel krabbelten, den Weg durch das Geflecht der Adern nahmen, bald würden sie das Becken erreichen, die Wirbelsäule, und mein Gehirn annagen. Ich nickte und entschuldigte mich, ich musste gehen, um neun Uhr gab ich meine erste Stunde.
    »Schaffst du es, mein Engel?«
    Manon atmete tief, biss sich auf die Wangen und gab mir dann mit einem schwachen Lächeln zu verstehen, ja, sie würde es schaffen. Ich trat hinaus mit dem Gefühl, wieder an die Oberfläche zu kommen. Als ich auf dem Schulhof an den von Sand und Salzwasser verschmierten Fenstern des Klassenzimmers entlangging, ließ ich Manon nicht aus den Augen: ein Liebender auf dem Bahnsteig, während der Zug davonfährt. Bald verschwand sie aus meinem Blickfeld, mir war, als würde ich sie verlieren. Ich kehrte zum Auto zurück, Nachzügler hasteten auf das Tor zu, widerstrebend, die Augen vom Schlaf verquollen, zitternd, von ihren Eltern am Arm gezogen.
    Ich fuhr ostwärts, einem cremefarben und zitronengelb gefransten Himmel entgegen. Der Tag brach an, und die Stadt ging in die Felder über. Unterhalb der Straße belebte sich das Meer allmählich, sein Blau blitzte und schien das Licht aufzusaugen. Als ich zu den Dünen kam, hatte sich die Nacht vollständig aufgelöst. Hohe, gelbliche Gräser ragten aus dem weißen Sand. Der Strand bildete eine Bucht, eine perfekte Sichel zwischen zwei Landzungen, die von Farn, Weißdorn, Heidekraut und Ginster überwuchert waren. Dahinter konnte man auf beiden Seiten kilometerlang dem Wasser folgen, die Küste wurde zerklüftet, Felsen und Heide senkten sich in die grünen Fluten oder endeten in einem Sandstreifen. Vor mir erhob sich, gewölbt wie eine Brust, eine kleine Insel, auf der Schwärme von Kormoranen, Möwen und ein paar Austernfischer nisteten. In der Ferne
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