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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde
Autoren: Oliver Adam
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zerschnitten Wolken wie phosphoreszierende Bänder den Himmel in grelle Fetzen. Über Fréhel kündigte ein Schleier von schönem Lilagrau einen Schauer an. Ich legte mich hin. Die Sonne färbte alles gelb, übergoss die Welt mit kaltem Gold. Der Wind blies mir weiße und gelbe Kristalle ins Gesicht, es knirschte zwischen meinen Zähnen. Ich schloss die Augen und schlief ein, allein inmitten der hellen Weite, vor dem durchscheinenden und wie von innen erleuchteten Horizont, von der Brandung gewiegt.
    Das Meer weckte mich, es leckte an meinen Füßen und benetzte meine Schuhe. Der Himmel war wie mit Schiefer bedeckt, über den Sand eilte ein vermummtes Paar, ein Hund lief voraus, dessen Pfoten den Sand niemals zu berühren schienen. Meine Glieder waren steif, mein Gesicht geschmirgelt, meine Haut war eine dünne Membran. Ich schaute auf die Uhr. Mein Telefon blinkte, ein lächerliches Leuchtzeichen, ein Taschensemaphor. Ich hörte die Nachrichten ab. Sie waren alle von meinem Bruder, er fragte, wo ich bliebe, vor zwanzig Minuten hätte ich da sein sollen, er musste die erste Stunde selbst geben, ich fing an, ihm auf den Geist zu gehen.
    Nadine trank einen Kaffee an ihrem Schreibtisch, einem verbogenen grauen Metallgestell, an dem vor ihr schon meine Mutter gesessen hatte. Im Nebenraum, einer klassischen Kombination aus stoffbespannten Wänden und Stuhlreihen vor einem von der Decke hängenden Fernseher, lief ein Video mit ganzen Serien von unsinnigen Fragen. Hauptsächlich ging es um Vorfahrtsregeln, erlaubtes Überholen und Hinweisschilder, und die größte Sorgfalt schien darauf verwandt worden zu sein, dass keine der beschriebenen Situationen im echten Leben, am Steuer eines echten Wagens, auf einer echten Straße vorkommen konnte. Etwa zehn Schüler saßen im Dunkeln und machten gähnend ihre Kreuzchen. Nadine hob die Nase von ihrer Tasse und lächelte mich an.
    »Dein Bruder ist wütend. Was hast du getrieben?«
    »Nichts, ich bin am Strand spazieren gegangen. Ich habe mich hingelegt, ich bin eingeschlafen.«
    Sie schüttelte mit freundlich betrübter Miene den Kopf und hielt mir ihre Wange hin, damit ich meine Lippen daraufdrückte. Ich schenkte mir einen zu dünnen Kaffee ein und blickte mich um, nichts hatte sich verändert seit der Zeit, als ich Kind war, Mama machte damals das Sekretariat und kümmerte sich um die Theorieprüfung, Papa gab Fahrstunden, und weder Alex noch ich konnten uns vorstellen, eines Tages ihren Platz einzunehmen. Ich dachte, dass sie nun bald zehn Jahre tot waren und dass es etwas schmerzlich Ironisches hatte, in einem Auto eingeklemmt zu enden, wenn man einen großen Teil seines Lebens der Sicherheit auf den Straßen gewidmet hatte.
    »Wie geht’s den Kindern?«
    »Manon hat gestern einen Anfall gehabt. Aber ich glaube, es wird schon werden.«
    Nadine sah mich liebevoll und mitleidig an, ihre Augen zuckten, sie hatte Sarah immer gerngehabt. Sie hatten sich nur selten gesehen, ein paar Tage im Sommer, jedes zweite Weihnachten, und das war so ungefähr alles, doch sie verstanden sich gut, brachten ihre Zeit damit zu, am Strand entlangzugehen, Füße im Wasser, Schuhe in der Hand und die Röcke hochgerafft. Abends tranken sie in der Küche Bier, Alex und ich hörten im Garten ihr Gelächter, wenn die Kinder im Bett waren und wir unsere Zigarren rauchten und in den schwarzen Himmel starrten.
    »Und du?«
    »Und ich?«
    »Wie geht’s dir?«
    Ich hatte keine Zeit zu antworten, mein Bruder kam herein und reichte mir die Schlüssel. Er hatte in den letzten Monaten etwas zugenommen, sein kurzgeschnittenes Haar betonte das füllige Gesicht, einen Augenblick fragte ich mich, was bei ihm nicht stimmte, aber es war nicht der passende Moment für ein Gespräch.
    »Das ist deine«, sagte er mit einem Blick durchs Fenster. »Es ist ihre zehnte Stunde. Ich hab ja versprochen, dir keine Anfängerinnen zu geben …«
    Ich ging zur Tür, schnappte mir im Vorbeigehen noch den Tagesplan, er war eher locker, drei Schüler insgesamt. Alex fragte mich, ob ich mich sicher fühlte, und als ich ihn ansah, dachte ich, im Grunde blieb man sein Leben lang der kleine Bruder.
    »Keine Dummheiten, hm?«
    Ich verließ das Büro und fühlte, dass er mir nachschaute, mich im Blick behielt, zwei Monate zuvor hatte ich ihn angerufen, ich brauchte Geld, ich hatte seit drei Jahren nichts veröffentlicht, seit Sarahs Verschwinden nichts geschrieben und nichts in den Schubladen, die Rücklagen gingen zur Neige, alle schienen
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