Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde
Autoren: Oliver Adam
Vom Netzwerk:
machen lassen. Aber was juckt mich das? Nadine wollte ein Kind. Und ich auch. Sie hat getan, was nötig war. Was ändert das?«
    Seine Weisheit trieb mir die Tränen in die Augen. Ich zog an meiner San Cristobal, ein Wald von Kiefern und Heidekraut wuchs mir in Bauch und Lungen. Wir rauchten unsere Zigarren bis zur Binde, dann drückten wir sie aus, in dem Moment fingen zwei Möwen an zu schreien, einfach so. Unter den Laternen pisste ein Hund, der Mann mit grauer Pelzmütze, der ihn an der Leine hielt, wünschte uns frohe Weihnachten. Als wir zurückkamen, saßen die Kinder immer noch auf dem Teppich und sichteten ihre Geschenke. Wir tranken unseren Whisky und schauten ihnen zu, Alex gestand mir, er mache sich Sorgen um die Kleine, irgendwann müsse ich mit ihr über Sarah reden. Ich begnügte mich damit, ihm zuzustimmen, es war Weihnachten, Nadine strahlte, die Kinder spielten, im Radio sangen die Engel, um nichts in der Welt hätte ich das kaputtmachen wollen.
    Kurz nach ein Uhr gingen die Kinder schlafen, Alex und Nadine eine halbe Stunde später, ich blieb allein im Wohnzimmer. Ich schaltete den Fernseher an und schlief vor einer Kirche ein, in der dicke Schwarze in dunkelbauen Gewändern Gospels heulten.
    Am nächsten Tag kamen Isabelle und ihr Sohn Gaël zu uns zum Mittagessen. Sie hatten die Arme voll Geschenke, Isabelles Augen leuchteten, sie war geschminkt, frisiert, in Gold und Seide gehüllt, strahlend, witzig, gesprächig und lachte über jede Kleinigkeit. Der kahlgeschorene und muskulöse Gaël hatte Augen wie ein Wolfshund im hageren Gesicht, aber eine Stimme und Gesten von ungeheuerer Sanftheit. Die Kinder täuschten sich nicht in ihm, sie akzeptierten ihn sofort und wetteiferten den ganzen Tag um seine Aufmerksamkeit. Ich briet Jakobsmuscheln, grillte Barsche, flambierte Bananen, und in der süßen Müdigkeit der Feiertage hatten wir sie im Nu verdrückt. Nach dem Kaffee ließ ich mich aufs Sofa fallen, ich war erledigt, Isabelle gesellte sich zu mir, die Sonne beschien uns freundlich, und wir schlummerten selig, während die Kinder im Garten versuchten, ihrem neuen Idol Tore unterzujubeln. Bréhel trat ohne zu läuten ein und fand uns dösend auf dem Sofa, seine Tüten quollen über von Seemannspullis, Cabanjacken und Fischerhemden. Gaël deckte sich ein, er hatte nur sehr wenig dabei und nicht genug anzuziehen, je mehr Tage vergingen, umso geringer wurde seine Lust, wieder in See zu stechen, er wollte seinen Aufenthalt um ein paar Wochen verlängern, Isabelle wurde zusehends jünger. Dann kam auch Justine, als ich sie sah, spürte ich meine Lungen reißen wie schlechtes Papier, ich entschuldigte mich, ich musste mich übergeben, in meinem Kopf ging alles durcheinander, aber es musste heraus, es drehte mir den Magen um, sie hier zu sehen, sie mir mit diesem Kerl vorzustellen, sie verschmolz mit Sarah, und mir kamen Bilder hoch, vergrabene gefürchtete auf Distanz gehaltene Bilder, grauenhafte Bilder der leidenden, entsetzliche Qualen ausstehenden, verstümmelten sterbenden Sarah. Als ich zurückkam, lächelte Justine mir zu, ich wich ihrem Blick aus. Sie merkte nichts, sie war mit etwas ganz anderem beschäftigt, wie sie und Gaël sich mit den Augen verschlangen, das konnte niemandem entgehen. Sie setzten sich in eine Ecke, vollkommen fasziniert voneinander, und man hörte den ganzen Nachmittag nichts mehr von ihnen. Die Kinder kamen verfroren und schmutzig von draußen. Sie nahmen sich nicht die Zeit, sich zu waschen, sondern stürzten sich gleich in eine Runde Schiffeversenken. Ich schloss die Augen. Bréhel hatte die Zeitung aufgeschlagen und kommentierte laut, was er las, Isabelle streckte sich, Justine und Gaël brachen alle drei Sekunden in Gelächter aus. In die alte orangefarbene Decke gewickelt stand ich auf und kochte Tee. Die Kinder verlangten ihren Kakao. Durch die Tür sah ich auf diese kleine Gesellschaft und betete, dass nichts sich ändern möge, dass alles so bleiben möge für die kommenden Jahrhunderte. Oder dass alles aufhören und verschwinden möge ohne Schrei und Schmerz. Aber das Schlimmste stand noch bevor. Dies war erst der Anfang. Das Schlimmste war gewiss. Es war schon geschehen. Wir waren nicht am Ende unseres Leids. Ich wusste es. Die nächsten Tage würden die schmerzlichsten, die härtesten, die quälendsten unseres Lebens sein, und ich weiß immer noch nicht, wie wir mit all dem fertiggeworden sind, wie wir drei haben weiterleben können.
    Die Milch zitterte leicht,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher